Syrien: "Wie kann die Welt diesem Elend zusehen?"

SYRIA-CONFLICT
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Am syrischen Grenzübergang Bab Salama warten bis zu 60.000 Flüchtlinge verzweifelt auf Einlass in die Türkei. Sie haben zu wenig zu essen und müssen bei Wintertemperaturen unter freiem Himmel schlafen.

„Möge Allah die Menschen unser schreckliches Leid wissen lassen“, ruft Suheila. „Wir schlafen auf einem Feld im Freien, es ist schmutzig, feucht und so kalt, dass man nachts kein Auge zumacht. Nun ist mein Mann krank geworden und hat Fieber.“ Die 47-jährige Frau ist völlig verzweifelt. Seit sieben Tagen muss das Ehepaar nun schon unter freiem Himmel campieren. Und das bei Temperaturen, die nachts auf fünf Grad sinken. Jeder von ihnen hat nur eine Decke, keinen Schutz gegen den Winterregen, und sanitäre Anlagen existieren sowieso nicht.

Nur einmal am Tag gibt es eine Mahlzeit. „Die Spaghetti- und Reisportionen reichen meist nicht aus, um satt zu werden“, erzählt Suheila am Telefon weiter. Direkt kann man mit ihr nicht sprechen. Denn sie und ihr 62-jähriger Ehemann gehören zu den rund 60.000 Menschen, die aus Angst vor russischen Luftangriffen an den syrischen Grenzübergang Bab Salama flüchteten. Von hier führt der Weg in die türkische Stadt Kilis. Aber die Grenztore zwischen den Nachbarländern sind geschlossen. Die türkischen Behörden lassen niemanden passieren.

Vor einer Woche hatten russische Kampfflugzeuge Menagh, den Heimatort des Ehepaars, bombardiert und zwei Häuser in ihrer Straße getroffen. Daraufhin flohen Suheila und ihr Mann Hals über Kopf. Sie konnten nur mitnehmen, was sie am Leib trugen. Es blieb nicht einmal Zeit, genügend Geld einzustecken. Denn damit könnten sie sich jetzt einen Schmuggler leisten, um illegal über die Grenze zu gehen, wie Suheila betont. Aber sie hatten Glück im Unglück. „Unser Nachbar, der mit uns flüchtete, ist noch einmal zurück, um einige Sachen einzupacken“, erinnert sich Suheila. „Genau in diesem Moment fiel eine Bombe und begrub ihn unter dem Trümmern seines Hauses.“ Auch Suheilas Heim wurde bei diesem Luftangriff zerstört.

In den ersten beiden Tagen nach ihrer Ankunft konnte die Hausfrau und Mutter noch in einem der großen Zelte schlafen – mit 40 anderen Frauen, dicht aneinandergedrängt. „Eine Familie hatte Mitleid und hat mir einen Platz überlassen“, sagt Suheila. „Dann aber kamen Verwandte von ihnen, und ich musste wieder draußen schlafen.“ Nun kauert sie sich jeden Abend in eine möglichst windgeschützte Ecke. „Ich bin sehr um meinen Mann besorgt.“ Die Kälte und der Schmutz haben ihn krank gemacht, so wie viele Kinder und Alte. „Ich wünsche mir nur Eines: endlich in die Türkei zu kommen. Dort sind meine Söhne, und alles wäre gut.“

Aber bisher gibt es keine Anzeichen, dass Ankara die Grenze öffnet. Die Türkei hat seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 rund 2,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Jetzt will man einfach nicht noch mehr. „Unsere Türen sind nicht geschlossen“, behauptete Suleyman Tapsiz, der Gouverneur von Kilis. „Aber im Moment besteht keine Notwendigkeit, diese Leute innerhalb unserer Grenzen aufzunehmen.“ Sein Land sei fähig, ihnen auch auf syrischem Boden ausreichend zu helfen. Jedoch scheint die Türkei damit völlig überfordert zu sein. Laut Informationen der Gemeinschaft Unabhängiger Ärzte (IDA), die seit Jahren Flüchtlinge an der Grenze betreut, lagern heute rund 45.000 Menschen an der syrischen Seite von Bab Salama. Und 15.000 weitere Flüchtlinge sollen in der nur wenige Kilometer entfernten syrischen Grenzstadt Azaz Unterschlupf gefunden haben. Der überwiegende Teil stammt, wie Suheila und ihr Mann, nicht aus der Stadt Aleppo, sondern aus dem ländlichen Raum nördlich der ehemaligen Industriemetropole. Andere sind aus den Gebieten der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) geflohen.

Bisher bekommen die Neuankömmlinge nur unzureichend Hilfe. „Die Türkei sagt zwar, sie tue genug, aber die Realität ist anders“, sagt Nizar Abu Bakr. Er sollte es wissen, denn er ist der Manager des Flüchtlingslagers Bab Salama auf syrischer Seite. Angesichts so vieler Menschen, um die er sich kümmern muss, nennt er sich schmunzelnd „Stadt-Bürgermeister“. Von acht Uhr morgens bis Mitternacht ist er mit der Aufnahme neuer Flüchtlinge beschäftigt. „Da bleiben nur fünf Stunden Schlaf.“ Er ist gerade auf der türkischen Seite, nach einem Meeting mit lokalen Hilfsorganisationen.

„Wir brauchen mehr Unterstützung“, meint Abu Bakr entschieden und beginnt, die Defizite aufzuzählen. Nur 5000 Menschen hätten ein richtiges Dach über dem Kopf und eine fixe Mahlzeit pro Tag. Lediglich 3500 Flüchtlinge seien in Zelten, 1500 in Moscheen untergebracht. „Der große Rest schläft im Freien auf Feldern und unter Bäumen.“ Vier Menschen, darunter auch Kinder, seien bereits gestorben. Insgesamt gebe es drei Feldlazarette, aber sie seien bei Weitem nicht genug. „Wir sind von der großen Zahl an Flüchtlingen einfach überwältigt“, bestätigte Mahmud Mustafa von der Ärzteorganisation IDA.

Für Abu Bakr bringt seine Arbeit auch eine enorme emotionale Belastung. Jeden Tag gebe es Momente, in denen er am liebsten weinen würde. Erst heute bat ihn ein Mann, sich dessen Frau anzusehen. „Sie hatte mitten auf einem Feld ihr Kind geboren.“ Dann sei da noch ein Mann gewesen, der mit einer Schrapnellwunde zu Fuß aus dem Gebiet des IS geflüchtet war. Er wollte in die Türkei, um sich behandeln zu lassen. „Aber an der Grenze wiesen ihn die Beamten ab und drückten ihm zwei Decken in die Hand“, sagt der „Bürgermeister“ von Bab Salama frustriert. Er ist zornig. „Wie kann die Welt diesem Elend untätig zusehen?“


Neue Luftangriffe. „Es fühlt sich wie das Ende der Welt an“, meint Ahmed aus der Grenzstadt Azaz. „Es sind so viele Leute hier, alle Schulen und Moscheen überfüllt, ebenso Häuser und Wohnungen.“ Ahmed ist für zwei Küchen verantwortlich, die mit 20 Köchen jeden Tag 2500 Menschen mit einer Mahlzeit verpflegen. Fünf Mitarbeiter liefern das Essen zu den Flüchtlingen. „Heute gab es Reis, Hühnchen und Kartoffeln mit Tomatensauce“, sagt Ahmed, der natürlich weiß: Das alles reicht nicht aus. „Aber was sollen wir machen?“ Ahmed steht dem neuen Münchner Abkommen für eine Waffenruhe in Syrien skeptisch gegenüber. „Mitten in der letzten Friedenskonferenz in Genf hat das Regime eine Offensive gestartet und all die Menschen im Norden Aleppos in die Flucht getrieben.“ Und erst in der Nacht auf Samstag hätten die Russen ganz in der Nähe der Grenzstadt bombardiert. Die Explosionen seien kilometerweit zu hören gewesen.

Ahmeds Meinung spiegelt die Einschätzung der Opposition wieder. „Wir heißen jeden Versuch, der Frieden bringen soll, höchst willkommen“, sagt Zakaria Malahefdschi von Fastakim, einer Rebellengruppe der Freien Syrischen Armee (FSA) aus Aleppo. „Aber bisher ist noch völlig unklar, wie das Abkommen umgesetzt werden soll. Außerdem bleibt die große Frage, ob man dem Regime und Russland auch nur im Geringsten trauen kann.“ Am Samstag sei die syrische Armee weiter auf Aleppo vorgedrungen, um die letzte bestehende Zufahrtsstraße abzuschneiden. „In Feuerreichweite haben sie den Nachschubweg schon, aber sie werden ihn ganz blockieren wollen“, meint Malahefdschi nachdenklich in seinem Büro in der türkischen Stadt Gaziantep. Zeit haben sie noch dazu. Die Waffenruhe soll erst in einer Woche beginnen.

Der Fastakim-Sprecher hat am Freitag mit der stellvertretenden US-Botschafterin in Ankara telefoniert. „Sie sagte mir, dass es zunächst gar nicht zu einer umfassenden Waffenruhe komme“, berichtet Malahefdschi. „Die russischen Luftangriffe sollen beendet werden, aber die Kämpfe am Boden sind nicht betroffen.“ Die Waffenruhe gilt nicht für den Kampf gegen die radikale al-Nusra-Front und den IS. Dies, so befürchtet Malahefdschi, könne das Regime als Ausrede benutzen, um die FSA weiter zu bekämpfen. „Das kennt man schon von den Russen“, erklärt der politische Sprecher. „Sie wollten angeblich den IS bombardieren und haben dann alle anderen Rebellen bekämpft.“

Bei Suheila, ihrem Mann und allen anderen Flüchtlingen lösten die neuen Bombardierungen in der Nähe von Azaz Angst und Schrecken aus. „Natürlich wäre das Ende der Luftangriffe ein großer Segen“, meint Suheila. „Aber für uns gibt es kein Zurück. Wir haben kein Haus mehr. Wohin sollten wir in Syrien gehen?“ Das Ehepaar will unbedingt in die Türkei. Aber die Grenze bleibt für sie und alle anderen Flüchtlingen geschlossen.

Fakten zu KiLIS

Grenzstadt. Die südostanatolische Stadt liegt fünf Kilometer nördlich der Grenze zu Syrien. Vor dem syrischen Bürgerkrieg lebten hier knapp 100.000 Menschen.

Flüchtlinge. Nun sind in und um Kilis nach Angaben der türkischen Behörden 120.000 Syrer untergebracht, 34.000 von ihnen in Lagern. Im Stadtzentrum leben mehr Syrer als Türken.

Geschlossene Grenze. Wenige Kilometer südlich, jenseits des Grenzübergangs Öncüpınar, warten bis zu 60.000 Flüchtlinge darauf, in die Türkei zu kommen. Ankara, das bereits 2,6 Millionen Syrer im Land hat, lässt kaum noch Flüchtlinge über die Grenze.

Lager in Syrien. Die Regierung hat zusammen mit Hilfsorganisationen begonnen, die Menschen auf der syrischen Seite der Grenze zu versorgen. Dort mangelt es an Unterkünften, Trinkwasser und sanitären Einrichtungen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2016)

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