Afghanistan: Die Gründe für den vierten Massenexodus

Afghanische Kinder spielen auf abgewrackten sowjetischen Panzern in einem Randbezirk der Stadt Jalalabad.
Afghanische Kinder spielen auf abgewrackten sowjetischen Panzern in einem Randbezirk der Stadt Jalalabad.(c) APA/AFP/NOORULLAH SHIRZADA (NOORULLAH SHIRZADA)
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Seit dem Abzug der Nato-Truppen verschlechtern sich Wirtschafts- und Sicherheitslage stetig. Sich in Afghanistan eine langfristige Existenz aufzubauen, ist kaum möglich.

Zu Beginn seiner Amtszeit, im September 2014, hatten viele Afghanen mit dem neuen Präsidenten Aschraf Ghani noch die Hoffnung auf Frieden verbunden. Umso größer ist heute die Enttäuschung darüber, dass die Wirtschafts- und Sicherheitslage des Landes weiterhin katastrophal ist. Im Vorjahr hat die Zahl getöteter oder verletzter Zivilisten im Konflikt mit 11.000 Opfern einen neuen Höchststand erreicht. Die Wirtschaft des Landes liegt am Boden.

Der Vertrauensverlust in die afghanische Regierung ist so groß, dass Afghanistan derzeit die vierte Massenflucht in seiner Geschichte erlebt. Die erste wurde durch die sowjetische Besatzung ausgelöst, die zweite durch den Bürgerkrieg, die dritte durch das Taliban-Regime. Rund ein Fünftel der knapp eine Million Flüchtlinge, die 2015 über das Mittelmeer nach Europa reisten, waren Afghanen. In Österreich beantragen sie seit November wieder die meisten Asylanträge. Verantwortlich für die meisten toten Zivilisten im Land sind die radikal-islamistischen Taliban, die seit Abzug der Nato-Truppen 2014 wieder an Macht gewinnen. Waren 2011 noch 140.000 Soldaten des Militärbündnisses im Land, sind heute nur mehr weniger als ein Zehntel davon für die Ausbildungs- und Beratungsmission der Nato namens „Resolute Support“ im Einsatz.

Taliban auf dem Vormarsch

Doch nicht nur der afghanische Präsident, sondern auch die Nato muss eine ernüchternde Bilanz ziehen: Die Taliban kontrollieren heute wieder die meisten Gebiete seit der US-Invasion und ihrem Fall im Jahr 2001: 115 der 407 Bezirke Afghanistans stehen unter der Kontrolle der radikalen Islamisten oder drohen zu kippen. Ein Zeichen für das Erstarken der Miliz war die kurzfristige Eroberung von Kunduz im September – die erste Einnahme einer Stadt durch die Taliban seit 2001. Auch in der südlichen Provinz Helmand, der Opium-Kammer der Landes, gelangen den Taliban im Dezember Gebietsgewinne.

Mitverantwortlich für den Machtzuwachs der Gruppe sei die Schwäche der afghanischen Regierung, sagt Thomas Ruttig, Mitgründer der NGO Afghanistan Analysts Network, der „Presse“. Neben der Gefahr durch die Taliban sei die Korruption der Behörden eines der größten Sicherheitsprobleme und Hauptauslöser für die jüngste Fluchtwelle nach Europa, so Ruttig.

Die Menschen fliehen nicht nur vor dem Krieg, sondern auch vor Armut: „Seit Ende 2014 flüchten definitiv mehr Menschen wegen wirtschaftlicher Faktoren als davor“, sagt auch der UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Nicholas Haysom, zur „Presse“ (siehe Interview). Denn nach dem Ende des Nato-Einsatzes 2014 verließen auch viele NGOs, Journalisten und Botschaftsmitarbeiter das Land. Die Folge: Der Arbeitsmarkt brach zusammen. „Die jungen Leute ziehen wegen der besseren Sicherheitslage in die Städte. Dort finden sie selten einen Job, deshalb verlassen sie das Land“, sagt Markus Potzel, der seit August 2014 deutscher Botschafter im Land ist.

Jahrzehntelang suchten Afghanen in Nachbarländern wie dem Iran oder in Golfstaaten nach – teils illegaler – Arbeit. Doch auch dort sind sie nicht mehr willkommen. So erlässt etwa der schiitische Nachbar seit 2001 immer restriktivere Gesetze gegen afghanische Asylwerber, sie suchen sich nun andere Zielländer. Derzeit befinden sich drei Millionen Afghanen im Iran, 950.000 davon mit Asylstatus.

Der stetige Strom afghanischer Flüchtlinge ist wohl ein Grund, warum Deutschlands Innenminister Thomas de Maizière massiv für die Rückführung von Afghanen in einige sichere Zonen wirbt. „Diese Idee hat nichts mit Afghanistan zu tun“, meint Ruttig. „Es gibt nur kleine Inseln in einem Meer von Unsicherheit“, sagt er. Selbst dort könnten sich die Menschen keine langfristige Existenz aufbauen. Für Ende Februar sind die ersten direkten Friedensgespräche zwischen den Taliban und der Regierung angesetzt. Auf zeitnahe Erfolge im noch nicht existenten Friedensprozess hofft aber kaum jemand.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2016)

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