Der Diktator lässt nach der Verschärfung der UN-Sanktionen seine Nuklearwaffen zum Einsatz vorbereiten. Das Regime ist nervös. Was bezweckt Kim Jong-un mit den Provokationen?
Tokio. Nordkoreas Diktator Kim Jong-un hat offenbar befohlen, die Atomwaffen des Landes zum sofortigen Einsatz bereit zu machen. Wie die amtliche Nachrichtenagentur KCNA vermeldete, ordnete der junge Führer bei der Inspektion einer Raketeneinheit an, das Militär soll sich auch auf Präventivschläge vorbereiten.
Es ist nicht das erste Mal, dass Pjöngjangs Machthaber mit einem atomaren Erstschlag gegen Südkorea, die USA und Japan drohen, aber diesmal ist die Lage beunruhigender als sonst. Erst im Februar hat das Regime mit dem Start einer Langstreckenrakete und zudem einen Monat zuvor mit dem Test einer angeblichen Wasserstoffbombe die Welt provoziert.
Es ist zwar möglich, dass Kim und Genossen tatsächlich über kampffähige Nuklearsprengköpfe verfügen, aber es bleibt zweifelhaft, ob die Militärs diese auf Interkontinentalraketen montieren können. Dennoch ist es „eine weitere Provokation mit dem Ziel, die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel zu verschärfen“, so die Einschätzung der Regierung Südkoreas.
Ein weiterer Atomtest?
Es wird nun sehr zeitnah mit einem fünften nordkoreanischen Atomtest gerechnet, was beinahe automatisch eine totale Ächtung der altstalinistischen Diktatur in der Welt nach sich ziehen würde. Erst am Mittwoch hat der UN-Sicherheitsrat – mit den Stimmen der mit Nordkorea sympathisierenden Vetomächte China und Russland – die bisher schärfsten Sanktionen seit 20 Jahren verabschiedet.
Kim Jong-un verunglimpfte die Strafmaßnahmen als „gangsterartig“ und reagierte mit dem Abschuss von Kurzstreckenraketen ins Japanische Meer. Das zeigt, wie groß die Wirkung sein kann, wenn alle Länder bei den Sanktionen mitziehen. Und es zeigt die daraus resultierende Nervosität des Regimes.
Was bezweckt Kim mit seinem Verhalten? Vieles spricht dafür, dass er und seine Genossen in der Aufrüstung die eigentliche Staatsräson sehen. Sie brauchen einen Feind, um dem eigenen Volk eine externe Gefahr für die Heimat vorzugaukeln und damit jeden inneren Widerstand zu unterdrücken. Des Diktators Kalkül läuft darauf hinaus, als gefährlich und gefürchtet zu gelten. Dabei dürfte dem 30-jährigen Herrscher klar sein, dass ein von Nordkorea initiierter Angriff einem Selbstmord gleichkäme. Auch seine Generäle wissen, dass jede direkte Attacke einen fürchterlichen Gegenschlag und das Ende des Regimes auslösen würde.
Doch auch seinen Gegnern nützt der Diktator als Feindbild. Hardliner in der Region, aber auch in den USA, begründen ihre eigenen ambitionierten Aufrüstungsziele mit Kims Säbelrasseln. Die USA entsandten bereits als „Mission der Stärke“ vier F-22-Kampfflugzeuge nach Südkorea. Derzeit laufen auch intensive Verhandlungen zwischen Washington und Seoul über die Installierung eines US-Raketenabwehrsystems.
Provozierte Irritationen
Bisher war Washington zu einer Stationierung nicht bereit, um China nicht zu provozieren und Japan keinen Vorwand zu liefern, ebenfalls ein solches System zu verlangen. Peking vermutet zu Recht besorgt, dass das Radar dieses Systems weit in sein Hoheitsgebiet hineinschauen könnte. Das Kalkül, Irritationen zwischen den Hauptstädten Ostasiens hervorzurufen, ist möglicherweise genau die politische Falle, die Kim Jong-un aufgestellt hat. Das ist wahrscheinlicher als die Annahme, der Diktator würde einen Atomkrieg riskieren.
Kim und die Leute in seinem Dunstkreis handeln nicht automatisch irrational. Vielmehr verfolgen sie die Taktik, dass sich Provokation und Friedensgesten von Zeit zu Zeit abwechseln. Das hat in der Vergangenheit die Front der Gegner Pjöngjangs eher zermürbt als dass es sie geeint hat.
Gut möglich ist auch, dass sich innerhalb des Regimes Machtkämpfe abspielen, die durch äußere Provokationen übertüncht werden sollen. Martialische Gesten geben der Propaganda jedes Mal einen willkommenen Anlass, den jungen Führer zu lobpreisen und das Staatsvolk hinter ihm auf Treue zu trimmen. Andererseits deuten hektische Personalveränderungen, merkwürdige Unfälle und Hinrichtungen der jüngsten Zeit darauf hin, dass Kims Herrschaft nicht unfehlbar, sondern durchaus fragil ist.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.03.2016)