Wo die Flucht nach Europa endet

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Im mazedonischen Gevgelija riegeln internationale Wächter unter Wiens Regie die Balkanroute ab. Jenseits des Grenztors breiten sich Läuse und Krätze aus, vor Wasser- und Essensausgaben gibt es lange Schlangen.

Im Schatten des Stacheldrahts ist der lästige Blick über die Amtsschulter nicht erwünscht. Noch harren die verhinderten Grenzgänger auf der griechischen Seite des Zauns vergeblich auf die Öffnung des Gatters, als ein mazedonischer Grenzpolizist in Gevgelija die Berichterstatter mit mürrischer Handbewegung und im strengen Befehlston von dem Zauntor zum griechischen Lager Idomeni hinter die 30 Meter entfernten Schienen vertreibt: „Alle Journalisten hinter die Gleise!“

„Macht die Grenze auf, helft uns!“, fordern einstweilen verzweifelte Demonstranten auf den blockierten Schienen des überfüllten Lagers. Doch wenige Hundert Meter entfernt scheint für die internationale Grenzertruppe weiterhin keinerlei Eile bei der gelegentlichen Öffnung des Grenztors nach Norden geboten: Es sind Beamte der Anrainer- und Višegrad-Staaten, die in Gevgelija die strengen Wächter der Balkanroute mimen.

„Das bestimmt Wien“.
Während mazedonische Grenzer gelangweilt an ihren Zigaretten ziehen, streifen sich ihre tschechischen, slowenischen und slowakischen Kollegen für die bevorstehenden Leibesvisitationen gemächlich Plastikhandschuhe und Gesichtsmasken über. „Wie viele Leute lassen sie heute durch?“, fragt verzweifelt ein Syrer jenseits des Stacheldrahts. „Ich weiß nicht“, antwortet ihm ein Helfer in hellblauer Weste: Wie viele Flüchtlinge passieren könnten, werde „jeden Tag von Österreich bestimmt“. Ausgerechnet ein Containerwagen der Rail Cargo Austria blockiert das verriegelte Eisenbahntor zu Griechenland. Unter der Regie Wiens wird der bisherige Flüchtlingskorridor der Balkanroute seit dem vor zwei Wochen verhängten Einreisebann für Afghanen immer weiter abgeriegelt. Doch von den heimlichen Herren von Gevgelija ist an der Grenze nichts zu sehen. Die österreichischen Kollegen seien vor zehn Minuten abgezogen, berichtet ein kroatischer Polizist, der sich als redseliger als seine wortkargen Kollegen erweist.

Alle Entscheidungen über die Zulassung oder Ablehnung von Migranten würden bei den abgesprochenen Prozeduren der Personalkontrolle von den Beamten der beteiligten Nationen „gemeinsam getroffen“, berichtet der dunkelhaarige Staatsdiener. Die Zusammenarbeit der internationalen Polizeitruppe sei gut, miteinander werde auf Englisch, mit den Flüchtlingen mithilfe eines Arabisch-Dolmetschers kommuniziert: „Wenn ihre Dokumente nicht den Anforderungen entsprechen, dürfen die Leute nicht passieren – und werden sofort auf die griechische Seite des Zauns zurückgeschickt.“

13 Tage ohne Dusche.
Lange Schlangen vor Wasser- und Essensausgaben bestimmen im Zeltlager von Idomeni das chaotische Bild. Mehr Helfer als Flüchtlinge verlieren sich wenige Hunderte Meter weiter nördlich in der entvölkerten Containersiedlung des Durchgangslagers in Gevgelija. „Hier gibt es Wasser und Essen, es ist alles okay“, berichtet ein bleicher Syrer, dem wenige Stunden zuvor die Grenzpassage mit seiner Frau, den beiden Kindern und der Schwester gelang: „Drüben hatten wir 13 Tage lang keine Dusche.“

Erleichterung will sich bei dem nervösen Familienvater dennoch nicht einstellen: „Sie haben meine Mutter wegen ihrer Papiere nicht durchgelassen. Was sollen wir nun tun? Ich bin verzweifelt.“ In einem „sehr schlechten Zustand“ würden die Flüchtlinge von Idomeni nach Gevgelija gelangen, berichtet am Grenzübergang Jespar Jensen, dänischer Mitarbeiter des UN-Kinderhilfswerks Unicef. „Viele haben sich zehn Tage oder länger nicht duschen können. Vermehrt beginnen sich Läuse, Krätze und Durchfallerkrankungen auszubreiten.“ Rund 40 Prozent der mittlerweile 12.000 Flüchtlinge in Idomeni seien Kinder, berichtet der Mann mit der schwarzen Hornbrille. „Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn du als Kind hungrig um Wasser und Essen anstehen musst – und 8000 Menschen noch vor dir stehen?“ Wegen der schlechten Bedingungen will der griechische Gouverneur von Zentralmazedonien nun den Notstand ausrufen; Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel mahnte Athen zu mehr Tempo bei der Schaffung von Plätzen für Gestrandete.

Das Tor öffnet sich.
Noch immer werden in Idomeni nun neue Zelte aufgebaut. Zwei- bis dreihundert Menschen pro Tag konnten letzte Woche das Lager der Verzweifelten in Richtung Mazedonien verlassen, täglich kamen dafür bis zu 2000 hinzu. Stundenlanges Warten auf ein Sandwich, tagelanges Warten auf die Grenzpassage. Endlich zieht ein Kordon griechischer Polizisten vor der Südseite des Zauns auf. Auf der anderen Seite verschwinden sechs Grenzbeamte mit einem Metalldetektor im Abfertigungshäuschen – und es öffnet sich schließlich das Tor.

Nach zehn Minuten hat als Erste eine schwarz gekleidete Witwe aus Syrien mit ihren beiden Kleinkindern im Arm und ihren Habseligkeiten auf dem Rücken die Personalkontrolle endlich passiert. Ihre Wartenummer habe ihr heute „Glück gebracht“, japst die heisere Frau atemlos. Ihr Mann sei im Krieg ums Leben gekommen, sie selbst seit 20 Tagen mit ihren Kindern zu ihrem Bruder nach Deutschland unterwegs. Sieben Tage habe sie in Idomeni verbracht, heute zehn Stunden „ohne Wasser und Essen“ mit ihren Kindern vor dem Tor angestanden: „Entschuldigen Sie, ich habe keine Stimme mehr, ich kann einfach gar nichts sagen.“ Noch ein halbes Dutzend erschöpft wirkender Familien können passieren, dann wird das Gatter wieder verriegelt. Erst wurde die Maximalzahl der in Gevgelija täglich zugelassenen Flüchtlinge von Wien mit 580, dann mit 500 und nun mit 450 Menschen definiert. Tatsächlich gelangten meist merklich weniger über die immer undurchlässiger werdende Lagergrenze. Von rund 300 Menschen am Tag sprach in dieser Woche in Gevgelija Mazedoniens Innenminister Oliver Spasovski: „Wir werden sie so lange durch lassen, solange Serbien und die anderen Staaten der Balkanroute sie passieren lassen.“ Deutlicher drückte sich Staatschef Gjorge Ivanov aus: Sobald Österreich seine Obergrenze von 37.500 Flüchtlingen erreicht habe, werde die Balkanroute geschlossen.

„Bitte helft uns.“ Die einbrechende Dunkelheit senkt sich über den Stacheldraht. Verzweifelt schiebt von der griechischen Seite des Zauns der Iraker Aram Taher aus Sulaimaniyya das Krankheitsdossier seines Kindes durch den Maschendraht. Ein Monat sei er mit seiner Familie unterwegs. Doch sein an einer offenen Harnblase leidender Sohn sei erkrankt, müsse unbedingt behandelt werden: „Bitte helft uns. Hier ist es einfach nur furchtbar.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2016)

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