Flüchtlinge: Der Weg nach Westen führt über viele Routen

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Vorläufig hat die Abriegelung der mazedonisch-griechischen Grenze die Flüchtlingszahlen stark reduziert. Hält der Migrationsdruck an, werden Schlepper aber versuchen, für ihre Kunden alternative Routen zu erschließen.

Belgrad. Die neuen Hürden auf der Balkanroute lassen in Österreich und Deutschland spürbar die Flüchtlingszahlen sinken. Die Zahl der illegal über die Balkanroute ziehenden Flüchtlinge sei im Steigen, die der offiziell eingereisten Immigranten „stark zurückgegangen“, umschreibt Radoš Djurović, Direktor des Zentrums für Asylsuchende im serbischen Belgrad, die Lage seit der weitgehenden Abriegelung der mazedonisch-griechischen Grenze: „Insgesamt sind derzeit deutlich weniger Flüchtlinge auf der Balkanroute unterwegs. Doch hält der Druck aus der Türkei an, wird sich das nicht halten lassen: Die Leute werden weiter kommen – und sich andere Wege nach Westen suchen.“

Nicht nur der Blick auf die Landkarte, sondern auch die Erfahrung bestätigt, dass vom Bosporus aus viele Wege nach Westen führen. Der Verlauf der Balkanroute hat sich nicht nur während der derzeitigen Flüchtlingskrise bereits mehrmals geändert, sondern war auch schon in früheren Jahren einem Wandel unterworfen. In den vergangenen Tagen sei zwar „noch kein verschärfter Druck“ auf Bulgariens Grenzen zu registrieren, berichtet in Sofia Kitty McCinsey, Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR: Schon früher hätten die Schlepper „sehr schnell auf jede Änderung der Lage reagiert“.

Ostroute über Bulgarien, Rumänien

Nicht nur die Würdenträger der Region spielen derzeit die Szenarien möglicher Routenänderungen nervös durch: Denn die Entlastung durch Abriegelung der eigenen Grenzen bedeutet in der Regel verstärkten Druck auf die der Nachbarn. Im Wesentlichen wird über drei Szenarien samt mehreren Varianten spekuliert: Umleitungen auf der bisherigen Balkanroute, die Verlagerung der Flüchtlingsbewegungen auf eine südlichere Adriaroute via Albanien oder die verstärkte Nutzung und Verschiebung der Ostroute über Bulgarien nach Rumänien – womöglich gar über die bisher kaum genutzte Schwarzmeer-Route.

So wie die Abzäunung von Ungarns Grenzen zu Serbien und Kroatien im Herbst zu der Verschiebung der Balkanroute nach Westen geführt hat, könnte es wegen der Abriegelung der mazedonisch-griechischen Grenze nun zu Umleitungen kommen. Djurović erinnert daran, dass die Schlepper bereits vor drei Jahren zeitweise den Umweg über Albanien nutzten: Als Mazedoniens Polizei 2013 verstärkt im Dreiländereck zu Serbien und dem Kosovo patrouillierte, habe die Route eine Zeit lang über Albanien und Montenegro nach Serbien geführt. Die Wiederholung des Szenarios hält er genauso für vorstellbar wie die verstärkte Nutzung von Ausweichrouten an der serbisch-mazedonischen Grenze über den Kosovo.

Denkbar sind jedoch auch Alternativrouten, die das bisherige Haupttransitland Serbien ganz umgehen. Von Albanien könnten beispielsweise drei Wege in den Westen führen: über die Adria nach Italien, an der Küste entlang über Montenegro ins südkroatische Dalmatien oder über Montenegro und Bosnien und Herzegowina nach Nordkroatien.

Szenen des Massenexodus der 1990er-Jahre, als Zehntausende Albaner die Schiffe in der Hafenstadt Durres kaperten, dürften sich aber kaum wiederholen. Zum einen ist die Adria leichter zu überwachen als die Ägäis. Zum anderen ist die Adria-Überfahrt wesentlich länger als die von der Türkei auf die nahen griechischen Inseln – und mit Schlauchbooten kaum zu bewältigen.

Schwierige Bergroute über Albanien

Die Küstenroute hält Djurović für wenig realistisch: In Dalmatiens schmalem Küstenstreifen seien die Überlandstraßen von der Polizei „relativ leicht zu kontrollieren“. Kaum wirkungsvoll zu überwachen sei hingegen die Route von Albanien über Montenegro und Bosnien und Herzegowina nach Kroatien: „Einzelne Schlepper werden das probieren. Aber das ist eine sehr harte Route mit vielen Grenzen. Zehntausende werden das kaum versuchen.“ Schon jetzt gilt die Ostroute durch Bulgarien als populärste Alternative zur ebenso riskanten wie kostspieligen Bootpassage über die Ägäis. Nicht nur die neuen Flüchtlingshindernisse an der mazedonisch-griechischen Grenze, sondern auch die Furcht vor einer etwaigen Abriegelung der Ägäisroute durch die Türkei lässt Sofia entschlossen auf den Ausbau des Zauns an der EU-Außengrenze zur Türkei setzen.

Neben Budapest schließt auch Bukarest offenbar eine Verschiebung der bisher von Bulgarien nach Serbien verlaufenden Ostroute nach Norden nicht aus. Ungarn kündigte kürzlich den Bau eines Grenzzauns zu Rumänien an, Bukarest umgekehrt die Einrichtung eines Flüchtlingslagers im nordwestrumänischen Taşnad. Bei verstärkter Überwachung der bulgarisch-türkischen Grenze könnten Schleppernetzwerke auch die bisher kaum genutzte Schwarzmeer-Route aktivieren: Vom Bosporus ist Bulgariens Küste keineswegs weit entfernt.

AUF EINEN BLICK

Aus für die Balkanroute? Aufgrund der Abriegelung der bisher genutzten Wegstrecke diskutieren Experten drei Szenarien für Flüchtlingsströme: Einerseits könnten Schlepper Variationen auf der bisherigen Balkanroute vornehmen. Die Flüchtlingsbewegungen könnten sich aber auch auf eine südlichere Adriaroute via Albanien verlagern. Denkbar ist weiters die verstärkte Verschiebung auf die Ostroute über Bulgarien nach Rumänien – womöglich gar über das Schwarze Meer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2016)

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