Die Schreckensbilanz des Syrien-Krieges

Hoffnung auf einen Neuanfang in Ruinen nach fünf Jahren Krieg. Dieses syrische Hochzeitspaar ließ sich in einem verwüsteten Gebäude in der hart umkämpften Stadt Homs fotografieren.
Hoffnung auf einen Neuanfang in Ruinen nach fünf Jahren Krieg. Dieses syrische Hochzeitspaar ließ sich in einem verwüsteten Gebäude in der hart umkämpften Stadt Homs fotografieren.(c) APA/AFP/JOSEPH EID
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Analyse. Vor fünf Jahren begann der Aufstand gegen Syriens Machthaber Assad. 300.000 Menschen wurden seither getötet, jeder zweite Syrer ist innerhalb oder außerhalb des Landes auf der Flucht. Nun ruhen alle Friedenshoffnungen auf den Verhandlungen in Genf.

Kairo. Die syrische Tragödie ist in Horrorziffern erstarrt, der angerichtete Schaden ins Unermessliche gestiegen. Laut Schätzungen kamen 300.000 Menschen in den fünf Bürgerkriegsjahren um, 1,9 Millionen wurden verletzt, 500.000 in Hungerenklaven gefangen. Nach dem Urteil internationaler Hilfsorganisationen waren die vergangenen zwölf Monate bisher die schlimmsten. Die statistische Lebenserwartung sank von etwa 76 auf 55 Jahre. Die Hälfte der einst 23 Millionen Syrer ist auf der Flucht – das größte humanitäre Desaster seit dem Zweiten Weltkrieg.

Drei Millionen Kinder haben jahrelang keine Schule mehr gesehen. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef spricht von einer verlorenen Generation. Hunderttausende Leben wurden abrupt unterbrochen und aus der Bahn geworfen. Die Zerstörungen haben das Mittelmeerland um drei Jahrzehnte zurückgeworfen. Experten der Vereinten Nationen schätzen die Wiederaufbaukosten auf mehr als 200 Milliarden Dollar, das Dreifache des jährlichen Bruttosozialprodukts Syriens vor dem Krieg. Genauso verheerend ist der immaterielle Schaden – die politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Verwüstungen der unglücklichen Nation.

Neue Demonstrationen gegen Regime

Und dennoch glimmt in dieser Woche erstmals ein Funken Hoffnung. Die vor zwei Wochen ausgerufene Waffenruhe hält im Großen und Ganzen – punktgenau zum fünften Jahrestag des Beginns des Massakers ist das der bisher wichtigste diplomatische Erfolg. Und kaum schweigen die Waffen, versammeln sich die Menschen wieder auf ihren ausgebombten Straßen. Tausende nutzten die Atempause, um erneut – wie in den Anfangstagen in Frühjahr und Sommer 2011 – gegen das Regime des Machthabers Bashar al-Assad zu demonstrieren und ihre Rechte einzufordern. Die Revolution geht weiter, skandierten die Syrer an mehr als hundert Orten, während ihr Diktator nach wie vor jedes Aufbegehren als Revolte von Terroristen gegen sein säkulares Regime denunziert – eine PR-Strategie, an der er bis zum heutigen Tag völlig unbeirrt festhält.

UN-Vermittler Staffan de Mistura hat in Genf die erste Verhandlungsrunde am Montag unter seiner Regie auf zehn Tage angesetzt. Gleichzeitig startete er offiziell den im vergangenen November in Wien international vereinbarten 18-monatigen Fahrplan für einen politischen Übergang. Bis spätestens Mitte September 2017 muss Syrien unter UN-Aufsicht ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten wählen, der die Macht von Assad übernimmt. Um diese Absicht zu unterlaufen, kündigte das Regime in Damaskus bereits für Mitte April neue Parlamentswahlen an, ein Alleingang, den das Hohe Verhandlungskomitee der Opposition als indiskutabel zurückwies und den de Mistura nun mit seinem international sanktionierten Terminplan unter wütenden Protesten der Assad-Getreuen beiseiteschob.

Denn das Regime in Damaskus tut alles, um Kompromisse zu vermeiden. Seine Mächtigen fühlen sich auf der Siegerstraße, sehen eine mögliche Rückeroberung der zweiten Metropole Aleppo unter der Deckung russischer Luftangriffe bereits zum Greifen nahe. Ähnlich starr agieren auch die regionalen Rivalen Türkei und Saudiarabien auf der einen und der Iran auf der anderen Seite. Sie wollen ihr Streben nach nahöstlicher Hegemonie nach wie vor auf syrischem Boden ausfechten. Einzig die USA und Russland scheinen im Zusammenwirken mit Europa entschlossen, den Brandherd auszutreten, auch wenn sie offiziell das Schicksal von Staatschef Assad bisher ausklammern.

Schicksalswoche in Genf

Wie schnell und wie laut die Uhr für den Diktator und die anderen Anführer des Regimes tickt, hängt vor allem von Russland ab. Dass Assad persönlich auf Dauer nicht mehr zu halten sein dürfte, weiß man auch im Kreml. Zudem soll Russlands Präsident, Wladimir Putin, keine sonderlichen Sympathien für den schlaksigen Augenarzt in Damaskus hegen. Und so wird es den Russen vor allem darauf ankommen, die territoriale Gestalt und Führungsstruktur eines „brauchbaren Rest-Syriens“ im Westen abzustecken, mit dem sich Moskaus strategische Interessen im Mittelmeer möglichst gut bewahren lassen.

Im Osten des Landes dagegen sind beträchtliche Territorien an die radikalen Kriegsherren des sogenannten Islamischen Staates (IS) und der al-Nusra-Front verloren gegangen, die mit den Ölquellen einen wichtigen Teil der vormaligen Staatseinnahmen kontrollieren. Syriens Kurden im Norden, die zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind faktisch autonom.

Und so machen die in Genf versammelten internationalen Diplomaten kein Hehl mehr daraus, dass sie für die nächsten Jahre eine föderale Struktur des kriegszerstörten Landes anstreben, das möglicherweise niemals wieder zu einem intakten Nationalstaat zusammenfinden wird. Die Genfer Schicksalswoche könnte erste Weichen stellen. Scheitern die Gespräche aber erneut, wird auch die fragile Waffenruhe bald kollabieren und die nächsten zehntausend Menschen mit in den Abgrund reißen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.03.2016)

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