EU-Türkei: Was passiert, wenn der Pakt aufgeht - und was, wenn er scheitert

Die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, hat den Deal zum Stopp der Flüchtlingswelle gemeinsam mit dem türkischen Ministerpräsidenten, Ahmet Davutoğlu, vorbereitet. Nun berät der EU-Gipfel darüber.
Die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, hat den Deal zum Stopp der Flüchtlingswelle gemeinsam mit dem türkischen Ministerpräsidenten, Ahmet Davutoğlu, vorbereitet. Nun berät der EU-Gipfel darüber.(c) REUTERS (UMIT BEKTAS)
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Geht alles gut, gelingt es Athen und Ankara, den ungeordneten Zuzug nach Europa zu drosseln. Doch damit alles klappt, müssen auch die Flüchtlinge selbst mitspielen.

Dass man in Berlin das heutige Treffen der 28 Staats- und Regierungschefs der EU mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu als „wichtigen Gipfel“ bezeichnet, kommt nicht von ungefähr: Schließlich setzt Angela Merkel alles auf die Karte Türkei. Von einem Abkommen mit Ankara erhofft sich die deutsche Bundeskanzlerin in der Flüchtlingskrise eine Wende zum Besseren. Vor dem heutigen Rendezvous mit Davutoğlu sprachen die Entscheidungsträger der Europäischen Union im Brüsseler Ratsgebäude Justus Lipsius über die Eckpunkte des umstrittenen Plans.

Seit seiner Vorstellung beim Gipfeltreffen am 7. März wurde die Zahl jener, die an der Wirksamkeit des türkisch-europäischen Abkommens zweifeln, nicht unbedingt kleiner – und das trotz der Tatsache, dass die EU-Kommission am Mittwoch versucht hatte, alle Zweifel rechtlicher und praktischer Natur zu zerstreuen. Dass Davutoğlu Brüssel ohne einen Deal verlässt, ist zwar möglich, aber unwahrscheinlich – ein offensichtlicher Misserfolg wäre ein Eklat und käme einer schallenden Ohrfeige für die Europapolitikerin Merkel gleich.

Spät in der Nacht auf Freitag haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs jedenfalls auf eine gemeinsame Linie zu den Fragen geeinigt, die noch mit der Türkei geklärt werden sollen. Gemäß einem Vorentwurf, der gestern die Runde gemacht hat, will die EU die heikle Frage der Visumliberalisierung für türkische Bürger erst im Frühjahr beantworten und alle weiteren Zugeständnisse an Erfolge bei der Eindämmung der Flüchtlingsströme koppeln. "Eine gemeinsame Vorgangsweise mit der Türkei ist möglich", sagte Bundeskanzler Werner Faymann nach der Entscheidung. Um spätestens 13 Uhr sei klar, wie sich die Türkei verhalte.

Bleibt somit die Frage, ob der Pakt mit der Türkei seinen eigentlichen Zweck erfüllen kann. „Die Presse“ hat zwei Szenarien für die nahe Zukunft entworfen.

Der Plan geht auf

In diesem optimistischen Zukunftsentwurf geht die Zahl der Neuankömmlinge auf den griechischen Inseln in der Tat schlagartig drastisch zurück. Bewirkt wird diese Trendwende durch die rigorose Umsetzung des vereinbarten 1:1-Prinzips: Griechenland schiebt demnach alle Migranten und Flüchtlinge in die Türkei ab, im Gegenzug übernimmt die EU für jeden abgeschobenen Syrer einen syrischen Flüchtling aus einem Lager in der Türkei. Sorgen, wonach diese Praxis rechtswidrig sei, erfüllen sich nicht, die Gerichte geben Brüssel und Ankara recht.

Mit der Implementierung des 1:1-Prinzips durch griechische und türkische Behörden wird den Schlepperbanden der ökonomische Boden entzogen, weil Migranten ihr Geld nicht für hoffnungslose Unterfangen verschwenden wollen; zugleich zerschlägt die türkische Küstenwache mit tatkräftiger Unterstützung der Nato-Mission die Schmugglernetzwerke in der Ägäis. Von der Entschlossenheit der EU abgeschreckt, verzichten nicht syrische Flüchtlinge und Migranten darauf, nach alternativen Routen nach Europa zu suchen, und vertrauen auf legale Möglichkeiten. Die EU-Mitglieder wiederum einigen sich rasch auf die Unterbringung der syrischen Flüchtlinge.

Nachdem das ursprünglich vorgesehene Kontingent von insgesamt 72.000 Plätzen aufgebraucht ist, garantiert eine Gruppe unter deutscher Führung die Übernahme weiterer Flüchtlinge aus der Türkei, wo insgesamt 2,7 Millionen Syrer ausharren. Von Deutschland inspiriert, schließen sich immer mehr EU-Mitglieder dieser Koalition der Willigen an. Die Unterbringung Hunderttausender geht reibungslos über die Bühne, die Kontrollen an diversen EU-Binnengrenzen können wie geplant mit Jahresende aufgehoben werden. Und zu guter Letzt sorgt die Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei für Tauwetter zwischen Ankara und Nikosia – und für einen Durchbruch bei den Verhandlungen über die Wiedervereinigung Zyperns.

Der Plan geht nicht auf

Im negativen Szenario hält die Massenflucht nach Europa unvermindert an. Und zwar, weil der Plan der Europäer aus einem oder mehreren Gründen nicht aufgegangen ist. Eine potenzielle Schwachstelle sind die griechischen Asylbehörden, die nach Expertenmeinung derzeit nicht mehr als 1500 Asylanträge pro Monat bearbeiten können. Damit das 1:1-Prinzip greift, müssen sie imstande sein, eine vergleichbare Zahl von Verfahren pro Tag abzuwickeln – weil Abschiebungen ohne Rechtsweg für die Betroffenen gemäß EU-Recht illegal sind. Schwachstelle Nummer zwei ist die Regierung in Ankara. Damit alles gut geht, muss die Türkei erstens nicht syrischen Flüchtlingen (etwa aus Afghanistan oder Eritrea) Schutz gewähren, was derzeit nicht geschieht, zweitens den Schleppern das Handwerk legen, wozu sie bis dato nicht willens war, und drittens den Flüchtlingsstrom nicht als Druckmittel einsetzen, um weitere Zugeständnisse abzupressen. Hinzu kommt die heikle Frage der Visumfreiheit. Sollten die EU-Mitglieder im Frühjahr ihre Zustimmung verweigern – sei es, weil die Türkei die Kriterien dafür nicht erfüllt hat, sei es, weil jene eine Ausreisewelle aus der Türkei fürchten –, wäre der Deal hinfällig.

Doch der Plan kann selbst dann scheitern, wenn Athen und Ankara alles richtig machen und syrische Flüchtlinge in der Türkei bleiben. Denn in Ermangelung eines legalen Weges nach Europa wird für alle Nichtsyrer die Mittelmeer-Route nach Italien zum einzigen Ausweg. Und nach Libyen wird die EU angesichts der bürgerkriegsähnlichen Zustände keinen Flüchtling oder Migranten abschieben können. Nehmen die libyschen Schlepper mit dem Anbruch der warmen Jahreszeit ihr Geschäft wieder auf, wird Italien mit einem massiven Anstieg der Neuankömmlinge konfrontiert – woraufhin Österreich nolens volens Kontrollen an der Grenze zu Italien einführen dürfte. Die Schengenzone wäre damit de facto Geschichte, die weitere Zusammenarbeit mit der Türkei wäre obsolet. Und die EU-Kommission sowie Deutschland würden einen massiven Vertrauensverlust erleiden – mit langfristig desaströsen Konsequenzen für den europäischen Zusammenhalt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.03.2016)

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