Die Wut auf die Staatschefin wächst, die Polizei geht mit Tränengas gegen Anti-Rousseff-Demonstranten vor. Und über ihr schwebt ein Amtsenthebungsverfahren.
São Paolo.Freitagfrüh rückten die Räumkommandos an. Mit Wasserwerfern und Tränengas vertrieb São Paulos Polizei Demonstranten, die so lange auf der Avenida Paulista zelten wollten, bis Präsidentin Dilma Rousseff ihr Amt abgibt. Das geht aber nicht: Für Freitagabend haben Rousseff-Anhänger die Hochhausschlucht gebucht. Sie wollen für Ex-Präsident Luiz Inácio Lula marschieren. Ein Richter hatte die Entscheidung der Präsidentin, ihren Vorgänger zum Kabinettschef zu machen, wegen Korruptionsermittlungen gegen Lula abgelehnt.
Brasilien, lange Musterland für entspanntes Miteinander, ist gespalten und nervös. Während die Wirtschaft in die schlimmste Rezession seit einem Jahrhundert rutscht, will ein Teil der Bevölkerung, konfrontiert mit immer neuen Details aus dem Schmiergeldschema um den Staatskonzern Petrobras, die Präsidentin abtreten und die Verantwortlichen, bis hin zu Lula, verhaftet sehen. Aber vor allem Brasilianer, die im vergangenen Jahrzehnt der Armut entrinnen konnten, verteidigen die Führer der Regierungspartei PT und sehen sowohl hinter den Ermittlungen der Petrobras-Richter als auch im Impeachment-Verfahren gegen Rousseff Putschpläne.
Vizepräsident will an die Macht
Am Donnerstag formierte sich im Kongress jener Ausschuss aus 66 Abgeordneten, der in fünfzehn Sitzungstagen die Situation einschätzen soll. Das Untersuchungsergebnis soll dem Plenum vorgelegt werden. Sollten zwei Drittel der Abgeordneten befinden, Rousseff habe im Wahljahr 2014 die Staatsfinanzen frisiert, wäre Rousseff ihr Amt für 180 Tage los. Dann muss der Senat entscheiden. Zwischenzeitlich würde ihr Vize, Michel Temer, regieren. Er käme an die Macht, wenn Rousseff ganz abgesetzt würde.
Noch vor Weihnachten sah es so aus, als könnte Rousseff den GAU vermeiden. Aber jetzt bröselt ihre Rückendeckung. Lula, den der Richterspruch vorerst sein Ministeramt kostete, wurde von Rousseff in die Regierung geholt, um – mit seinem Verhandlungsgeschick und seinen Kontakten – der Präsidentin das notwendige Drittel zu sichern. Doch nun, nach der Publikation eines belastenden Telefonats zwischen den beiden sowie Lulas Suspendierung, steht Rousseff da wie der König ohne Kleider. Allen war aufgefallen, dass Temer Lulas Angelobung geschwänzt hatte. Er ist Chef der größten Koalitionspartei PMDB. Diese Partei, belastet durch die Petrobras-Affäre, beschloss, ihre Koalitionspolitik zu überdenken. Ende März wird das Präsidium tagen. Möglich, dass dort die Daumen sinken und Rousseff ihre Mehrheit verliert – ehe die Amtsenthebung ihren Höhepunkt erreicht hat. Rousseff will nicht freiwillig gehen.
Längst kursieren Gerüchte, Temer wolle mit der sozialdemokratischen Opposition eine große Koalition schmieden, um die Wirtschaft voranzubringen und das Land zu einen. Die Finanzmärkte feierten in der Vorwoche jeden Rückschlag für Rousseff mit Gewinnen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2016)