Radikalisierung von Jugendlichen: "Sie wollen für eine Sache kämpfen"

Saliha Ben Ali (rechts) kämpft gegen die Radikalisierung Jugendlicher.
Saliha Ben Ali (rechts) kämpft gegen die Radikalisierung Jugendlicher.(c) Mirjam Reither
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Saliha Ben Ali aus Brüssel hat ihren Sohn an die Jihadisten in Syrien verloren und kämpft nun gegen die Radikalisierung junger Menschen in Belgien. Ein Gespräch über die Wege in den Extremismus – und was man dagegen tun kann.

Belgien hat pro Kopf mehr Jihadisten hervorgebracht als jedes andere Land in Europa: Fast 500 überwiegend junge Menschen haben sich dem Islamischen Staat (IS) in Syrien angeschlossen. Warum ist das so?

In Belgien gibt es viel Diskriminierung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit. Wir haben eine hohe Arbeitslosigkeit, die Schulen sind schlecht. Das ist eine fragile soziale Situation. In Frankreich ist es dasselbe Schema: Das sind zwei europäische Länder, in denen die Kinder nach ihrer Identität suchen, Kinder der zweiten oder dritten Generation von Migranten. Sie finden ihren Platz nicht. Wenn sie zum Beispiel nach Marokko in die Ferien fahren, fühlen sie sich nicht marokkanisch, weil ihnen die Leute dort sagen, dass sie Belgier sind. Wenn sie zurück nach Belgien kommen, wird ihnen gesagt: ihr seid keine Belgier, ihr seid Marokkaner.

Wie verläuft die Radikalisierung? Und geschieht das im Internet oder über persönlichen Kontakt?

Es gibt mehrere Kanäle. Es gibt den physischen Kontakt mit radikalen Predigern, das findet immer außerhalb der Moschee statt. Ein solcher Mann sagt dann den Jugendlichen, dass er mehr über Religion wisse als der Imam und dass er den Jugendlichen über Religion unterrichten könne. Dann bringt er ihn in eine Gruppe. Das ist die physische Rekrutierung, sie kann einige Tage, auch ein oder zwei Monate dauern. Danach kommt der Einfluss über die sozialen Netzwerke, wie Facebook, Whatsapp, und so weiter. Die Leute schicken Links, Videos darüber, was in der Welt passiert. In Palästina, in Syrien. Sie bearbeiten das Gewissen der Kinder, vermitteln den Kindern ein Gefühl der Schuldigkeit: Du bist mitschuldig, dass so etwas passiert, weil Du nichts dagegen tust. Sie treffen genau den Punkt, an dem die Jugendlichen verletzlich sind.

Woran bemerkt man eine Radikalisierung?

Das markanteste Zeichen ist für mich die Isolierung der Jugendlichen – von der Schule, vom Sport, den Freunden, der Familie. In diesem Stadium ist der Jugendliche fähig, in ein Kriegsgebiet zu gehen oder etwas Schlimmes anzustellen, zum Beispiel ein Attentat. In dieser Phase hat die Manipulation meist schon stattgefunden.

Die Rekrutierer versuchen also bewusst, die Jugendlichen von ihrem alten Umfeld zu isolieren?

Ja, weil sie sie indoktrinieren müssen. Und sie müssen sicherstellen, dass diese Botschaften dauerhaft wirksam bleiben. Wenn man jemanden von seiner Familie isoliert, weiß man, dass die Botschaft bleibt. Denn der Jugendliche mit seiner Familie weiter kommuniziert, kommt er nach Hause und erzählt alles: „Weißt Du, Mama, ich hab mit dem und dem gesprochen, der mir das und das gesagt hat.“ Und als Mutter sagt man: „Nein, das ist nicht wahr!“

Welche Bedeutung hat der Freundeskreis für die Jugendlichen?

Im Zuge der Radikalisierung wechseln sie ihren Freundeskreis. Sie haben neue Freunde. Die Jugendlichen sind dann nicht mehr so, wie sie vorher waren. Und sie wollen von ihren alten Freunden, die sie von früher kennen, dafür nicht verurteilt werden. Ihre neuen Freunde sind wie sie: radikalisiert. In einer Gruppe, die zusammenbleibt und dieselbe Ideologie teilt, stigmatisiert sie keiner.

Wie werden die jungen Menschen letztlich dazu gebracht, nach Syrien zu gehen oder ein Attentat zu verüben?

Sie werden mit einer Mission versehen. Ihnen wird gesagt: Du kannst den Menschen in der Welt helfen, aber um das auf gute Weise tun zu können, musst Du dieses Land verlassen. Du musst umziehen. Das ist das letzte Stadium der Radikalisierung.

Sie helfen anderen Müttern, um zu verhindern, dass noch mehr Jugendliche radikalisiert werden. Gibt es einen Punkt, an dem auch die Mütter nichts mehr ausrichten können?

Es ist immer möglich einzugreifen, aber eine Mutter kann das in diesem, letzten Stadium nicht alleine tun. Es ist sehr schwierig, einen Jugendlichen zu stoppen, der etwas für eine Sache tun will. Das ist der Sinn des Ganzen. Es geht ihm nicht nur darum wegzugehen in einen Krieg. Die Jugendlichen gehen, um für eine Sache zu kämpfen. Das Wichtige ist zu versuchen, ihnen zu vermitteln, dass es andere Wege gibt, um Gutes zu tun und zu helfen. Und man muss ihnen vermitteln, dass sie in dem Krieg sterben können. Manchmal glauben sie, dass es ein Spiel ist. Sie spielen oft Kriegsspiele: ich habe noch ein, zwei Leben. Aber es ist kein Spiel, und es gibt einen Unterschied zwischen dem Virtuellen und der Realität. In dem Alter, mit 16, 18, 20 Jahren, ist ihnen das nicht klar.

Zur Person

Saliha Ben Ali ist Sozialarbeiterin in Brüssel. Sie kommt aus einer Migrantenfamilie mit marokkanisch-tunesischen Wurzeln. Ihr Sohn ging im Jahr 2013, damals 19-jährig, nach Syrien und kam drei Monate später ums Leben. Seitdem engagiert sie sich gegen die Radikalisierung von Jugendlichen in Belgien. Sie gründete unter anderem die Organisation „Save Belgium“ (Save steht für Society Against Violent Extremism) und betreut die Mütterschulen von „Frauen ohne Grenzen“, die Müttern helfen, gegen die Radikalisierung ihrer Kinder vorzugehen.

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