Augenzeugen: "Es roch nach Dynamit, überall lagen Menschen"

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"Die Presse" sprach mit Menschen, die den Brüsseler Anschlägen knapp entkamen.

Brüssel/Wien. Stille, völlige Stille – und dann das verzweifelte Schreien eines kleinen Kindes. In der Dunkelheit des Brüsseler U-Bahn-Tunnels werden Menschen aus einem Waggon evakuiert. Der Zug kann nicht weiterfahren: Wenige hundert Meter weiter, in der Station Maelbeek im Zentrum der europäischen Hauptstadt, ist kurz zuvor eine Bombe detoniert und hat mehrere Menschen in den Tod gerissen.

Thomas Thaler ist mit dem Schrecken davongekommen. Er ist auf dem Weg von seiner Wohnung zum EU-Parlament, der ihn an Maelbeek vorbeiführt. Normalerweise. Denn Minuten, bevor er dort ankommt, erhält der Büroleiter des ÖVP-Abgeordneten Paul Rübig (ÖVP) eine SMS – Explosion in der Station. Also nimmt er einen Umweg, passiert den nahen Schuman-Platz. Die Lage ist unübersichtlich. Ein Passant sagt ihm nun, dass es auch dort in der Nähe Anschläge gegeben haben soll, die sich später als kontrollierte Sprengung eines verdächtigen Pakets auf der Rue de la Loi herausstellen. „Sirenen heulten. Polizei und Militär fuhren vor“, sagt Thaler. „Mein Eindruck war, dass zu diesem Zeitpunkt niemand wusste, was genau passiert war, aber in den Gesichtern der Menschen war eine Anspannung erkennbar.“

Die Lage im Europaviertel ist chaotisch, nach und nach wird das Gebiet weiträumig abgesperrt. Die Mitarbeiter von EU-Institutionen, Organisationen und Betrieben in der Brüsseler Innenstadt werden aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Viele erreichen die Nachrichten auf dem Weg ins Büro, auch eine junge Bankangestellte, deren Namen der „Presse“ bekannt ist. Sie liest auf ihrem Mobiltelefon von den Explosionen auf dem Flughafen Zaventem, die sich eine Stunde vor jener im Zentrum des Europaviertels ereignen. Die Frau fühlt sich daraufhin in der Metro unsicher, sie steigt bei Gare Central aus und geht zu Fuß weiter. Ihr Gefühl hat sie nicht getäuscht: Die Station Maelbeek, wo kurz darauf mindestens zwanzig Menschen sterben, wäre auf ihrem Arbeitsweg gelegen.

Hysterisch weinende Menschen

Auch Edit Schlaffer, Vorsitzende der Organisation Frauen ohne Grenzen, die gerade für das Projekt „Mütterschulen gegen Extremismus“ in Brüssel ist, entgeht nur knapp einer Katastrophe. Als sie am Morgen das Hotel Thon gegenüber der EU-Kommission verlässt, hört sie die Explosion. „Ich sah Menschen auf der Straße liegen, plötzlich waren überall Polizisten mit Gewehren, ein Dynamitgeruch lag in der Luft“, berichtet sie im Gespräch mit der „Presse“. Zahlreiche Personen wurden in das Hotel gedrängt, aus dem Schlaffer kurz zuvor ausgecheckt hatte. Doch in der vollen Empfangshalle fühlt sich die Österreicherin noch unsicherer. „Das wäre doch das perfekte Ziel gewesen“, sagt sie. „Ich war entschlossen, nicht in dem Gebäude zu bleiben, aber der Hinterausgang war bereits verschlossen. Also drängten wir uns an den Wachebeamten vorbei durch die Tür vorn hinaus.“ Schlaffer und ihren Kollegen kommen auf der Straße hysterisch weinende Menschen entgegen, die Österreicherin ruft ihnen zu, sie sollten schnell umdrehen und in die andere Richtung laufen.

Viele Angestellte befinden sich zu diesem Zeitpunkt bereits in den Bürogebäuden des Europaviertels. Sie werden angewiesen, nicht mehr auf die Straße zu gehen; tun sie es doch, dann „auf eigene Gefahr.“ Manche Unternehmen mieten Busse an, um ihre Mitarbeiter sicher nach Hause zu bringen. Im EU-Parlament werden wichtige Ausschüsse – wie jener zum VW-Skandal – abgesagt. Die Atmosphäre ist laut Augenzeugen ruhig – ebenso in der Kommission. Das Mobilfunknetz ist zu diesem Zeitpunkt längst zusammengebrochen, viele versuchen, ihre in Brüssel arbeitenden Angehörigen zu erreichen. Das belgische Krisenzentrum fordert dazu auf, SMS zu schreiben statt anzurufen.

Explosionen in der Empfangshalle

ÖVP-Abgeordnete Elisabeth Köstinger hat in ihrem Büro von den Vorfällen erfahren, sie war bereits um kurz nach sieben Uhr im Parlamentsgebäude. „Wir sind alle sehr betroffen“, sagt sie. „Aber diese feigen Verbrecher wollen doch nur, dass man vor ihnen Angst hat. Diese Genugtuung dürfen wir ihnen nicht geben.“ Ein schwieriger Vorsatz, findet wohl auch der Taxifahrer Philippe. Als er am Dienstagmorgen am Brüsseler Flughafen Zaventem ankommt, hört er die zwei verheerenden Explosionen in der Empfangshalle. „Ich habe dann mit einem Kollegen nachgesehen. Da war ein schreckliches Blutbad, dazwischen zerstückelte Körper“, erzählt Philippe „La Libre“. Der Schock sitzt bei den Betroffenen besonders tief.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2016)

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