Aus Protest gegen den EU/Türkei-Deal schränken UNHCR sowie Ärzte ohne Grenzen ihre Hilfe drastisch ein. An Massenabschiebungen wolle man sich nicht beteiligen.
Wien/Genf. Die Zahl war überschaubar. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch sind 260 Flüchtlinge von der Türkei auf den griechischen Inseln angekommen. Lange nicht mehr war die Zahl so niedrig, denn normalerweise sind es Tausende, die Nacht für Nacht die gefährliche Überfahrt Richtung Griechenland auf sich nehmen. Es ist allerdings fraglich, ob sich damit schon der kürzlich besiegelte Deal zwischen der EU und der Türkei bemerkbar macht. Vielmehr stürmt es derzeit stark an der ägäischen Küste. Eine Überfahrt wäre in höchstem Maße lebensgefährlich.
Dennoch kommen auch weiterhin Flüchtlinge an. Und für die griechischen Behörden wird die Arbeit zunehmend schwieriger. Gleich zwei wichtige Stützen der Hilfe vor Ort, die Ärzte ohne Grenzen (MSF) sowie das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), haben angekündigt, ihre Arbeit in den Lagern auf den Inseln großteils einzustellen – aus Protest gegen den EU/Türkei-Deal.
Die Fortführung der Tätigkeit würde die Organisation zum „Komplizen eines Systems machen, das wir als unfair und unmenschlich ansehen“, so Marie Elisabeth Ingres, Einsatzleiterin von MSF in Griechenland: „Wir werden nicht zulassen, dass unsere Hilfe für eine Operation zur Massenabschiebung instrumentalisiert wird.“
Zuvor hatte bereits UNHCR scharf kritisiert, dass das Aufnahmelager (Hotspot) Moria auf Lesbos zu einem Internierungslager geworden sei. Das Gelände ist auch noch ein ehemaliges Gefängnis. Weil Flüchtlinge gemäß dem neuen Deal in die Türkei zurückgebracht werden sollen, dürfen sie Moria nicht mehr verlassen. Bis dato durften sie sich frei bewegen, daher ließen sich viele hier lediglich registrieren, ehe sie sich auf den Weg nach Deutschland oder Schweden machten.
Ihr Rückzug aus Moria sei als „Aufschrei“ sowie als „klarer Fingerzeig an die Politik“ zu werten, sagt der MSF-Geschäftsführer in Österreich, Mario Thaler: „Wir wissen, dass wir große Lücken hinterlassen.“ Sowohl MSF als auch UNHCR stellen den Transport von Flüchtlingen, die auf Lesbos stranden, ins Lager Moria ein. Die griechischen Behörden haben nicht so viele Transportmittel zur Verfügung; es drohen chaotische Zustände. Mit mobilen Stationen oder Seenotrettung werden beide Organisationen jedoch weiterhin auf Lesbos tätig sein.
Keine Rechtsberatung
Die EU hatte vergangene Woche mit Ankara vereinbart, dass illegale Flüchtlinge, die Griechenland erreichen, wieder zurück in die Türkei gebracht werden. Für jeden illegalen Flüchtling wollen die EU-Länder ab Anfang April einen Flüchtling aus der Türkei auf legalem Wege aufnehmen. Zudem sollen die Türkei mit Geld und Griechenland mit Logistik und Personal unterstützt werden.
Gerade, was Personal betrifft, hadert Athen enorm. Thaler zufolge sind etwa zu wenige Dolmetscher vor Ort, auch würden die Flüchtlinge keine Rechtsberatung erhalten, was angesichts des EU/Türkei-Deals notwendig wäre. Der griechische Regierungschef, Alexis Tsipras, hat unlängst die Zahl von mindestens 2300 Experten genannt, die das Land dringend für die Bewältigung der Flüchtlingskrise brauche. In Griechenland befinden sich derzeit 46.000 Flüchtlinge.
Die türkischen Behörden haben unterdessen mit den Vorbereitungen für die Aufnahme der Flüchtlinge aus Griechenland begonnen; so wurden neue Wohncontainer aufgestellt. Am Mittwoch gab Premier Ahmet Davutoğlu an, dass Europa für die Stabilität in der Region keinen anderen Partner habe als die Türkei.
Für die Flüchtlingskrise und Terroranschläge wie beispielsweise in Ankara oder Brüssel machte Davutoğlu die „falsche Syrien-Politik“ sowie die internationale Unterstützung von kurdischen Milizen in Syrien verantwortlich. (duö)
Auf einen Blick
Flüchtlinge. Derzeit befinden sich etwa 46.000 Schutzsuchende in Griechenland. Untergebracht in Lagern wie auf der Insel Lesbos, sollen sie sich nicht mehr frei bewegen können. Aus Protest haben Hilfsorganisationen ihre Tätigkeit an manchen Stellen stark eingeschränkt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2016)