Analyse: Die politische Utopie vom „reinen islamischen Staat“

„Wir werden gewinnen, trotz der internationalen Koalition.“ Ein Propagandaplakat in Raqqa, der „Hauptstadt“ des IS.
„Wir werden gewinnen, trotz der internationalen Koalition.“ Ein Propagandaplakat in Raqqa, der „Hauptstadt“ des IS.(c) Reuters
  • Drucken

IS und al-Qaida zählen zu den gefährlichsten Vertretern des modernen Jihadismus. Seine Ursprünge liegen im Ägypten der 1960er-Jahre.

Sie behaupten, den einzig wahren Islam zu vertreten und beschimpfen alle anderen Muslime, die ihrem Weg nicht folgen wollen, als „Ungläubige“. Sie verherrlichen Gewalt als Mittel zur Änderung bestehender Herrschaftsordnungen. Ihr Ziel ist der Aufbau dessen, was sie unter einem „reinen islamischen Staat“ verstehen. Jihadi-Salafismus oder Jihadismus nennt man die Strömung, der Extremistengruppen wie der sogenannte Islamische Staat (IS), al-Qaida oder die in den 1970er-Jahren in Ägypten entstandene Jamaa Islamija angehören. Der IS ist die bisher jüngste Ausgeburt dieser Ideologie. Er hat in seinem Gedankengebäude viele der jihadistischen Ideen weiter ins Extreme verschärft und um apokalyptische, fantasyartige Versatzstücke angereichert.

Salafismus heißt so viel wie Rückbesinnung auf die Vorfahren. Seinen Anhängern schwebt ein Ur-Islam vor und ein „gottesfürchtiges Leben“ – so wie es in ihrer Vorstellung zur Zeit des Propheten Mohammed und seiner Gefolgsleute der ersten drei Generationen geherrscht hat. Salafismus an sich ist noch keine politische Strömung oder gar gewalttätig. Die Anhänger des sogenannten puristischen Salafismus lehnen politische Betätigung sogar kategorisch ab. Daneben gibt es aber den politischen Salafismus, der Staat und Gesellschaft nach seinen Ideen formen will.
Der Jihadi-Salafismus ist die jüngste dieser Strömungen. Seine Gefolgsleute wollen ihre Utopie eines „reinen islamischen Staates“ mit Gewalt real werden lassen. Die Ursprünge dieser aggressiven Bewegung liegen vor allem bei Gruppen und Ideologen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Ägypten aktiv waren.

Kampf gegen arabische Führer

Einer ihrer Ideengeber war der 1906 geborene ägyptische Journalist Sayyid Qutb, der der islamistischen Massenbewegung der Muslimbruderschaft angehörte. In seinen Schriften forderte er die Errichtung eines „wahren islamischen Staates“. Nur in ihm könnten sich die Muslime gegenüber den Europäern behaupten und zu ihrer alten Stärke zurückfinden. Alle anderen Ordnungen, wie Monarchie, Demokratie und Kommunismus geißelte er als „unislamisch“. 1966 wurde Qutb in Kairo hingerichtet.

Ägypten war zu dieser Zeit ein gefährliches Biotop für extremistische Gruppen. Zu ihnen gehörten auch die Männer, die 1981 den ägyptischen Staatschef, Anwar as-Sadat, ermordeten. Die jihadistischen Untergrundorganisationen nahmen vor allem die autoritären Herrscher in ihren Ländern ins Visier – von den Militärs in Ägypten bis hin zu den Monarchen in Jordanien oder Nordafrika. Sie wollten mit Gewalt die staatlichen Systeme stürzen und sie gemäß der Ideen Qutbs durch eine neue „islamische Ordnung“ ersetzen.

Alle anderen Muslime, die die Weltanschauung der Jihadisten nicht teilen oder ihnen im Wege stehen, werden zu „Ungläubigen“ erklärt, die bekämpft werden müssen. Von dieser Methode des sogenannten Takfir sind alle arabischen Regierungen betroffen – sogar die erzkonservativen wahhabitischen Monarchen Saudiarabiens. Dem Königshaus wurde erst von al-Qaida und dann später vom IS abgesprochen, muslimisch zu sein.

Feldzug in Afghanistan

Das erste große Schlachtfeld für jihadistische Gruppen lag aber nicht in der arabischen Welt, sondern im zentralasiatischen Afghanistan. Dorthin waren jihadistische Ideologen und Kämpfer aus Ägypten, Jordanien oder Saudiarabien gezogen, um in den 1980er-Jahren den sowjetischen Truppen entgegenzutreten. Der spätere al-Qaida-Führer Osama bin Laden war dort im Einsatz. Ebenso wie der Jordanier Abu Musab al-Zarqawi, der erst 1989 nach Afghanistan ging.

Zarqawi war später der Kopf von al-Qaida im Irak, die gegen die US-Truppen und die neue Regierung in Bagdad kämpfte und einen mörderischen Bürgerkrieg gegen die Schiiten des Landes entfachte. In Zarqawis Gruppe liegen auch die Wurzeln des heutigen IS.
Von allen Extremistengruppen ist es dem IS bisher am nachhaltigsten gelungen, seinen bizarren Traum eines jihadistischen Utopia real werden zu lassen. Der IS herrscht über sein Gebiet mit drakonischen Gesetzen. Vor allem Frauen, aber auch Männer müssen strikte Bekleidungsvorschriften einhalten. Musik und Zigaretten sind verboten. Auch muslimische Heiligtümer wie Sufi-Moscheen und Wallfahrtsorte werden zerstört. Die Anhänger der Schiiten, der zweiten großen Richtung im Islam, werden als „Ungläubige“ verfolgt und ermordet. So wie alle, die sich dem totalitären Machtanspruch des IS widersetzen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.