Der Tag danach: „Alter, es hätte dich treffen können“

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Unter den wachsamen Blicken schwer bewaffneter Soldaten ging man gestern in Brüssel wieder dem gewöhnlichen Tagesgeschäft nach.

Brüssel. Seit Mittwoch ist die Brüsseler Metro das wohl sicherste öffentliche Verkehrsmittel Europas – zumindest jene Bruchstücke des Liniennetzes, die nach den verheerenden Bombenanschlägen vom Dienstag in Betrieb sind. Anders als nach den Attentaten in Paris am 13. November haben sich die belgischen Behörden diesmal dazu entschlossen, zumindest ansatzweise Normalität zu wahren. Normal, das heißt in diesem Fall: Die Linien 2 und 6, die den Stadtkern umkreisen, bleiben vorerst geschlossen. Die Linien 1 und 5, die Brüssel von Ost nach West queren und sich in den Randbezirken verzweigen, verkehren in Teilbetrieb – Schienenersatzverkehr inklusive. Denn genau in der Mitte der Ost-West-Achse klafft ein Loch: Die Metrostation Maelbeek, in der noch immer die Überreste der zerbombten Garnitur stehen. Bis das Wrack entsorgt und die Station wiederhergestellt ist, werden nach Angaben der Verkehrsbetriebe noch Wochen vergehen.

Wer derzeit aus den Wohnvierteln am Ostrand der Stadt ins Zentrum will, muss sich auf den Weg zum Bahnhof Delta im Distrikt Auderghem machen, wo die Brüsseler Verkehrsbetriebe ihre Remise haben. Während auf der nahegelegenen Schnellstraße Nummer N210 der Verkehr stadteinwärts rauscht, bewachen gut zwei Dutzend Polizisten und Soldaten die U-Bahn. Armeeangehörige gehören bereits seit geraumer Zeit zum gewohnten Stadtbild, doch die um Delta versammelten Bewaffneten sind von einem anderen Kaliber – und das ist wortwörtlich gemeint: Sie tragen volle Kampfmontur, Granatwerfer fehlen ebenso wenig wie Scharfschützen. Würde der flüchtige Terrorverdächtige Najim Laachraoui die Remise mit einem Panzer angreifen – die vorhandene militärische Hardware würde locker ausreichen, um ihn sofort in die Flucht zu schlagen.

Was nicht bedeutet, dass die bis an die Zähne bewaffneten Beschützer nicht nervös waren. Der Polizist, der alle Metropassagiere einer schnellen Leibesvisitation unterzog und ihr Gepäck durchsuchte, trug zwar kugelsichere Weste und schwarze Gesichtsmaske mit Schlitzen für Augen und Mund, doch statt grimmige Entschlossenheit zu signalisieren bewirkte die Maskierung das genaue Gegenteil und brachte den verunsicherten Blick des jungen Beamten voll zur Geltung. Ob er denn heute schon etwas gefunden habe? „Nichts Gröberes“, antwortete der Polizist brüsk – und gab den Weg zum nahezu menschenleeren Bahnsteig frei.

Die Station Schuman, wo die Metro ihre provisorische Endstation hat, liegt direkt unter den Hauptquartieren von EU-Kommission und Rat. Im Europaviertel herrschte gestern demonstrative Betriebsamkeit – wenn auch kein Hochbetrieb, da ein Teil der EU-Beamtenschaft vorzeitig in die Osterferien aufgebrochen war. In der Trafik unterhalb des Rond-point Schuman, wo sich normalerweise die halbe Welt mit internationalen Zeitungen und Zeitschriften eindeckt, nutzte der Geschäftsbesitzer diese Gelegenheit, um endlich das Bücherregal zu sortieren. Gestört wurde er dabei von einem stämmigen Touristen, der mit seinem Smartphone alle Titelseiten der Sonderausgaben zu den Anschlägen fotografierte und sich anschließend im gebrochenen Französisch danach erkundigte, welche Zeitung denn in Brüssel die wichtigste sei. „La Capitale“, antwortete der Trafikant leicht entnervt.

Dreijährige entgingen knapp dem Tod

Zu diesem Zeitpunkt hatte das Flaggschiff des frankofonen belgischen Lokaljournalismus bereits damit begonnen, die Namen der Todesopfer zu veröffentlichen. Den Terroristen zum Opfer fielen etwa der 20-jährige Léopold Hecht, der an der Universität Saint-Louis-Bruxelles Jus studierte, Olivier Delespesse von der Fédération Wallonie-Bruxelles sowie die 36-jährige Peruanerin Adelma Maria Tapia Ruíz. Ihr belgischer Mann und ihre zwei dreijährigen Kinder überlebten nur durch Zufall. Sie waren kurz weggegangen, um zu spielen. Dann explodierte die Bombe und riss ihre Mutter in den Tod. Keine Spur gab es laut „La Capitale“ weiterhin von den Geschwistern Alexander und Sascha Pinczowski. Sie waren auf dem Flughafen Zaventem, als die Selbstmordattentäter ihre Bomben zündeten. Der Brüsseler Flughafen wird auch am heutigen Donnerstag für den Passagierverkehr gesperrt bleiben.

Glück und Unglück lagen in Brüssel an diesem Mittwoch nah beieinander. Am Place Jourdan unterhalb des Ratsgebäudes Justus Lipsius, am Eingang zur OR Espresso Bar, begrüßte ein EU-Beamter seinen Kollegen mit herzlicher Umarmung und den Worten „It could have been you, mate“ – es hätte dich treffen können, Alter. Der Angesprochene, ein erschöpft wirkender, aber tadellos gekleideter Mann (dunkelblauer Anzug, Overcoat in Olivgrün), konnte am Vortag den Tatort Maelbeek unversehrt verlassen und anschließend seine Erleichterung im Internet verbreiten. Dass das Espresso gestern offen hatte, war keine Selbstverständlichkeit. Man habe kurz überlegt, einen Ruhetag einzulegen, sich aber schlussendlich dagegen entschieden, berichtete die junge flämische Barista. „Es wäre nicht in Ordnung, wenn unsere Stammkunden an so einem Tag auf einen vertrauten Ort verzichten müssten. Und ich persönlich fühle mich hier geborgener als daheim.“
Die Tafel am Eingang, auf der sonst diverse Kaffeespezialitäten angepriesen werden, ergänzten die Mitarbeiter um einen Satz: „We ♥ BXL“ – wir lieben Brüssel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2016)

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