Frauenpower auf Syrisch

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Der Krieg hat die Aufgaben in syrischen Familien verdreht. Männer bleiben zuhause, Frauen kümmern sich um den Lebensunterhalt.

Verbrannte Erde und ausgelöschtes Leben haben die fünf Kriegsjahre in Syrien hinterlassen. Seit 2011 erlebt das Land aber auch an der soziokulturellen Front einen Wandel. Die Hilfsorganisation Care hat in mehreren Gruppendiskussionen mit syrischen Frauen und Männern (deren Heimat nicht von Islamisten eingenommen wurde) die grundlegenden Veränderungen ihrer Geschlechterrollen untersucht. Vor dem Krieg waren rund 22 Prozent der syrischen Frauen berufstätig, ein Großteil von ihnen in der Landwirtschaft als Nebenerwerbsbäuerinnen. Ihre Rolle hatte viele Schranken. Ihr Platz war zuhause. Deshalb gab es auch höchstens eine Handvoll Familien im Land, in denen Frauen für das Haupteinkommen sorgten und die wichtigsten Entscheidungen trafen.

Mittlerweile sind es zwischen zwölf und 17 Prozent. Durch den Umbruch haben die Männer ihre Position als Versorger verloren. Einige sitzen kriegsversehrt im eigenen Haus fest, viele sind nicht mehr da. Syrien hatte vor 2011 rund 21 Millionen Einwohner, mehr als 250.000 sind bisher dem Konflikt zum Opfer gefallen, ein Großteil davon Männer. Millionen haben das Land verlassen oder es versucht. Sie schlagen sich im Ausland durch, mit der Hoffnung, ihre Frauen und Kinder eines Tages auf legalem Weg nachzuholen.

Neue Aufgaben

In Kriegszeiten füllen Frauen die entstandenen Lücken in der Gesellschaft. Der aktuelle Care-Report beschreibt die neuen Arbeitsfelder der Syrerinnen. Seitdem das Gesundheitssystem im Land zusammengebrochen ist, wurden medizinische Aufgaben von ihnen übernommen, entweder pflegen sie kranke Familienmitglieder zuhause oder als Freiwillige in improvisierten Krankenhäusern. In Orten, an denen Schulen geschlossen wurden, werden Kinder von den Müttern unterrichtet. Das, was am Landwirtschaftssektor noch übrig ist, wird zu 65 Prozent von Frauenhänden beackert. In manchen Regionen, so schreibt Care, sind es sogar 90 Prozent. Einige Diskussionsteilnehmerinnen der Studie berichteten davon, dass Frauen auch manchmal gezwungen sind, "in der Kleidung der Männer an der Front zu kämpfen".

Und gleich, ob sie kämpfen, Computer reparieren oder Brot backen - Frauen verdienen in Syrien bis zu 30 Prozent weniger als Männer. Die Arbeit außer Haus verschaffe den Frauen nicht nur neue Probleme – sie begeben sich in bedrohliche Situationen vom Granatenbeschuss bis zum sexuellen Missbrauch -, die Arbeit bringe ihnen auch eine neues Selbstbewusstsein und eine neue Stärke. Nicht alle Partner fühlen sich damit wohl. Sie fürchten, ihr Gesicht zu verlieren. Im Haushalt helfen nur die wenigsten Männer mit, erzählen die Befragten. Für Frauen kommt damit zur neuen Jobsituation auch die Hausarbeit samt Kindererziehung hinzu. Ein syrischer Durchschnittshaushalt hat drei Kinder. Die älteren müssen dann manchmal die Rolle der Ersatzeltern auf Kosten ihrer Ausbildung übernehmen.

Neue Probleme

25 Prozent der Syrer leben laut einem Report der WHO mit einer Behinderung, der überwiegende Teil sind Männer. Sie wurden im Gefecht verwundet, sind arbeitsunfähig und sitzen in ihren eigenen vier Wänden fest. Einige können diese auch aus einem anderen Grund nicht verlassen und keinen legalen Zugang zum Arbeitsmarkt finden, sie werden als Wehrdienstverweigerer oder Deserteure gesucht. Enge, Frust und posttraumatische Belastungsstörungen sind ein verlässlicher Hebel für Aggression. In Syrien haben sich nicht nur die Geschlechterrollen verschoben, auch das Risiko für häusliche Gewalt ist gestiegen. Ein Thema, das im Kriegsalltag keinen Platz findet.

Der Report von Care

(sh.)

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