Goli Otok: Alcatraz in der Adria

(c) Thomas Roser
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Vor 60 Jahren wurde vor der kroatischen Adria-Küste Jugoslawiens berüchtigtes Inselgefängnis eröffnet. Auf Goli Otok ließ Tito Regimekritiker inhaftieren. Frühere Insassen warten bis heute auf Rehabilitierung.

GOLI OTOK. Gleißend flimmert die Hitze über dem baumlosen Gestein. Düster thront der Wachturm mit den leeren Fensterhöhlen auf dem Gipfel von Goli Otok – der „nackten Insel“. Verrostete Bettgestelle türmen sich vor den verlassenen Schlafbaracken der Gefangeneninsel. Die letzten Bewohner des unwirtlichen Internierungslagers sind vor der sengenden Sonne in zerfallene Werkstätten, von Unkraut überwucherte Fabrikhallen und Kerkerzellen geflüchtet: Hastig nimmt eine aufgeschreckte Horde magerer Schafe in der einstigen Kantine vor den unerwarteten Besuchern Reißaus.

„Die Natur holt sich alles zurück“, brummt Inselführer Ivan Peric, während er seine Schützlinge durch das verlassene Geistercamp vor der Küste der kroatischen Adria lotst. Für umgerechnet 25 Euro schippert der Kroate seit zehn Jahren Touristen von der sieben Kilometer entfernten Ferieninsel Rab auf den kargen Inselfelsen. Die Anwohner auf den umliegenden Inseln hätten von der Existenz der Strafkolonie gewusst, manche dort auch gearbeitet, berichtet einsilbig der Hobbyfischer. Zu jugoslawischen Zeiten sei der Zugang zu dem Inselgefängnis für Normalbürger „streng verboten“ gewesen. Ansonsten sei das mittlerweile zerfallene Jugoslawien jedoch ein „normales Land“ gewesen, versichert er mit einem Achselzucken: „Wahrscheinlich wusste nicht einmal Tito von dem Lager.“

Tatsächlich war es jedoch Jugoslawiens autokratisch regierender Landesvater Josip Broz Tito selbst, der politische Gegner in das im Juli 1949 eröffnete Internierungslager verbannen ließ. Wie viele Dissidenten in dem jahrzehntelang tabuisierten und erst 1988 geschlossenen Insellager isoliert, misshandelt und zu nutzloser Schwerarbeit gezwungen wurden, ist ungewiss: Auf 12.000 bis 50.000 wird die Zahl der früheren Häftlinge auf „Titos Hawaii“ geschätzt. In der „Hölle der Adria“ ließ Tito als Erste ausgerechnet frühere Genossen schmoren: Ohne Prozess wurden nach dem Bruch mit der Sowjetunion 1948 tausende Stalinisten nach Goli Otok deportiert. Die Insel sei Titos KZ und Straflager gewesen, sagt der Zagreber Historiker Goran Juricic, der Vorsitzende des „Kroatischen Zentrums zur Untersuchung kommunistischer Verbrechen“: „Nicht alle kamen zurück. Es wurden auf Goli Otok auch Menschen ermordet.“

„Hässlichste Zeit meines Lebens“

Noch immer wird der 78-jährige Branko Mitrovic von nächtlichen Albträumen geplagt, schreckt schreiend aus dem Schlaf auf. Sein Martyrium auf Goli Otok sei die „schwerste und hässlichste“ Zeit seines Lebens gewesen, berichtet der pensionierte Frauenarzt in Serbiens Hauptstadt Belgrad mit ruhiger Stimme. Als 19-jähriger Gymnasiast wurde er im November 1949 verhaftet. Mit Mitschülern hatte er damals Flugblätter gegen die von ihm abgelehnte Abkehr von der Sowjetunion getippt. „Ich war im Zweiten Weltkrieg schon mit 14 Jahren bei den Partisanen, glaubte an das Ideal der sozialistischen Einheit – und hielt den Bruch mit Stalin für einen Fehler.“ Ohne Prozess wurde er im Mai 1950 von einer Kommission zu zwei Jahren Arbeitslager verurteilt.

Wohin die Reise der in Viehwagen gepferchten Häftlinge aus ganz Serbien gehen sollte, wusste der Schüler damals nicht: „Ich hatte nie von Goli Otok gehört.“

Aneinandergekettet wurden die Deportierten schließlich in der Nacht aus den Waggons über eine Rampe in einen offenen Seefrachter geprügelt: „Wir riefen ,Lang lebe Stalin!‘ – und sie schlugen noch fester zu.“ Die Ketten wurden den Ankömmlingen auf der Insel zwar abgenommen. Doch dafür mussten sie durch ein 500 Meter langes Spalier aufgereihter Lagerinsassen zu rennen: „Sie schlugen auf uns ein wie von Sinnen.“

Nicht nur Hitze, Wassermangel, Epidemien und die Prügelexzesse der Wächter setzten den zum Steineklopfen abkommandierten Häftlingen auf dem „Alcatraz der Adria“ zu. Zu irgendeiner Form der Rehabilitierung sei es nach seiner Entlassung im Sommer 1951 nie gekommen. Trotz seiner traumatischen Erfahrungen auf Goli Otok sei er den sozialistischen Idealen seiner Jugend immer treu geblieben, versichert Mitrovic. Sein früheres Vertrauen in deren einstige Heilsbringer wurde indes nachhaltig „enttäuscht“: „Was der Gulag für Stalin war, war Goli Otok für Tito.“

Nach der Wiederannäherung zwischen Belgrad und Moskau Mitte der 50er kamen die letzten prosowjetischen Dissidenten frei. Fortan wurden nicht nur Kriminelle, sondern auch Regimekritiker jeder Couleur nach Goli Otok verbannt. Nicht nur der Öffentlichkeit in Jugoslawien, sondern auch dem „Westen“ waren die tabuisierte Insel und ihre politischen Gefangenen indes kaum bekannt.

Keine Veränderung nach Tito

Nach Titos Tod 1980 hielt der damals 19-jährige Zagreber Jurastudent Dobrislav Paraga gemeinsam mit seinem Freund Ernest Brajder den Zeitpunkt für gekommen, eine Unterschriftensammlung für eine Amnestie für die rund 2500 politischen Gefangenen zu wagen. „Wir dachten, die Zeit sei reif für eine Veränderung“, berichtet der heute 48-jährige Chef der nationalkonservativen „Kroatischen Rechtspartei 1861“ in Zagreb. Doch wenige Tage, nachdem die beiden Aktivisten ihre Liste an die Regierung in Belgrad und die KSZE in Wien geschickt hatten, wurden sie verhaftet. Brajder starb während des Verhörs durch den jugoslawischen Geheimdienst, Paraga wurden während der Folterungen in der Untersuchungshaft die Beine gebrochen, er wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt und nach Goli Otok deportiert. Die Erinnerung an seine Leidenszeit auf der „kahlen Insel“ fällt dem stockend berichtenden Politiker noch heute schwer: „Ich wurde misshandelt und gefoltert.“

Peiniger blieben unbehelligt

Vergeblich klagte er nach seiner Entlassung die Leitung und einige Wächter der Misshandlung an. Doch zu einer Rehabilitierung der politischen Häftlinge kam es auch nach der Unabhängigkeit Kroatiens nie. Selbst die Führungskader der konservativen Regierungspartei HDZ rekrutierten sich aus „früheren Kommunisten“: „Die Strukturen, die die Insel schufen, leben in Kroatien noch immer fort.“

Goli Otok sei ein Projekt gewesen, das „die freisinnigen Geister vernichten sollte“, sagt Radomir Pejic, Chef des unabhängigen „Kroatischen Verbands politischer Gefangener Goli Otok“ in Karin. Die früheren politischen Gefangenen fänden in seiner Heimat noch immer kein Gehör, klagt der Frühpensionist, der wegen eines systemkritischen Artikels in den 70er-Jahren inhaftiert wurde: „Wir werden praktisch noch immer verfolgt.“

Die Menschen, die in Jugoslawien für Freiheit und Bürgerrechte stritten, würden „marginalisiert“, während ihre früheren Peiniger „unbehelligt und geschützt“ leben könnten, bedauert Historiker Juricic: „Niemand interessiert sich für die früheren politischen Häftlinge, nicht die Medien, nicht die Politik. Sie werden ignoriert. Sie bestehen einfach nicht.“

„See you soon in Goli Otok!“

Schweigend trotten Touristen durch die Ruinen der stillgelegten Möbel- und Fliesenfabrik. Nur das Blöken eines Schafs durchbricht die sengende Mittagsstille. „See you soon in Goli Otok“ – in der Imbissbude der Geisterstadt harren vergilbte Postkarten meist vergeblich der Käufer. Für die Ansiedlung von Feriensiedlungen mangle es auf Goli Otok einfach an Wasser, sagt Fremdenführer Ivan – und schließt eine Nutzung der Gefängnis- als Badeinsel kategorisch aus. Am besten wäre es, Goli Otok zur Gedenkstätte zu machen, sagt Goran Juricic. Zagreb habe kein Interesse daran, die Insel zum Museum zu machen, vermutet hingegen Exhäftling Paraga: „Am liebsten ist ihnen, dass alles zerfällt, die Spuren verschwinden.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2009)

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