Chios: Eine Insel wird zum Hotspot

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Viele Bewohner der griechischen Insel Chios sind erbost über den EU/Türkei-Deal. Während früher Flüchtlinge eilig weitergezogen sind, müssen sie jetzt hier zur Registrierung bleiben.

Die Krawalle, die es am Mittwoch vor dem Rathaus von Chios gab, waren so unerhört für die beschauliche Insel in der Ostägäis, dass es die Einwohner selbst nicht glauben wollten.Im Rathaus war an diesem Tag ein Gemeinderat angesetzt gewesen. Thema: Die Flüchtlingskrise.

Da versammelte sich auf dem Rathausplatz eine Menge von zwei- bis dreihundert Bürgern, die sich als „Flüchtlinge“ im eigenen Land fühlten, verkündeten, dass sie Angst um ihre Sicherheit hätten und forderten, dass die seit 20. März auf der Insel festsitzenden Bootsflüchtlinge von der Insel verschwinden müssten – speziell das Häuflein von Verzweifelten, das sich im Hafen niedergelassen hatte und den Schiffsverkehr blockierte. Dann eskalierte die Veranstaltung, die Menge drang zum Sitzungssaal im ersten Stock vor, schrie die Gemeinderäte nieder und trieb einen unglücklichen Kameramann mit Tritten und Hieben die Treppen hinunter. Im Anschluss daran stürmten die Schläger auf den Platz zurück und rissen ein Transparent herunter, auf dem ein Häuflein Gegendemonstranten gegen „die Deportationen“ von Flüchtlingen zurück in die Türkei protestierte, und verprügelten eine Aktivistin. Dann wurde zum Ausklang der Veranstaltung die griechische Nationalhymne in die Nacht hinausgeschmettert.

Mustergültige Bewältigung

Seitdem am 20. März das Abkommen zwischen EU und Türkei in Kraft getreten ist, mit dem auf mehreren griechischen Inseln Registrierzentren, sogenannte Hotspots, eingerichtet und die offenen Auffanglager in geschlossene Einrichtungen umgewandelt wurden, haben die Bewohner von Chios ihre Ruhe verloren. Als letztes Jahr Zigtausende Flüchtlinge von der Türkei kommend auf der Insel landeten, bewältigte Chios das mustergültig.

Damals wurde ein Durchgangslager geschaffen. Hilfsorganisationen und Gemeinde gemeinsam betreuten die Flüchtlinge, die meist höchstens ein bis zwei Tage auf der Insel blieben. Kaum wurden jedoch die Tore des großen Flüchtlingslagers in den ehemaligen Werkhallen einer Aluminiumfabrik für die Migranten im Ort Chalkeios geschlossen, begannen die Probleme. Am nächsten Tag zogen sich die Hilfsorganisatoren aus dem Lager zurück, was mit einem Schlag die medizinische Betreuung, die Versorgung mit Lebensmitteln und vor allem Wasser verschlechterte. Es kam zu Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingsgruppen, am folgenden Tag brachen Hunderte aus dem Lager aus, das lediglich durch ein Drahtzaun gesichert war.

Die Regierung reagierte, indem sie Spezialeinheiten der Polizei auf die plötzlich unsicher gewordene Insel verlegte. Ein Fehler, wie sich herausstellte: Beim ersten Anlass wurden Bewohner von Chios von der Polizei verprügelt – das hat die Stimmung noch explosiver gemacht. In diesen Gewässern fischt nun die rechtsextreme Goldene Morgenröte, die bei den letzten Parlamentswahlen im Herbst 2015 auf knapp sechs Prozent der Stimmen auf der Insel gekommen ist. Ihr Rezept: Sie beteiligt sich an Bürgerausschüssen, um sie in „patriotische“ Kanäle zu lenken. So demonstrierten Parteimitglieder gemeinsam mit Bürgern des Orts, wo das Flüchtlingslager liegt, aber auch mit kleinen Geschäftsleuten aus dem Hafen, deren Umsätze unter den anwesenden Flüchtlingen leiden.

Frust über Regierungsvertrag

Doch wie viele Flüchtlinge befinden sich noch auf der Insel? Zurzeit sind etwa 1800 registriert. Um die 1100 in den Hallen der Aluminiumfabrik, 500 bis 600 im Lager Souda, der Rest wartet am Hafen, kaum fünfhundert Meter entfernt. Das offene Lager von Souda liegt unterhalb der imposanten Stadtmauern, direkt am Meer. Hier kommen vor allem Familien unter. Geleitet wird Souda von der Gemeinde Chios. Direktor Vasilis Balas erklärt: „Die Gemeinde koordiniert. Die medizinische und materielle Versorgung sowie die Nahrungsausgabe haben Hilfsorganisationen übernommen.“

Private Security-Leute kontrollieren die Schleifen der aus- und eingehenden Lagerbewohner, direkt am Meer findet die Essensausgabe statt, Flüchtlingskinder baden im Meer, in den Kunststoffbarracken lagern ganze Familien. Alle Mitarbeiter hier sind der Meinung: Solange es keine Abschiebungen gegeben hat, solange die Lager offen waren, hat es keine Probleme gegeben.

Der Gemeinderat kommt übrigens zum selben Schluss: Er will den Vertrag mit der Regierung über die Abgabe des geschlossenen Lagers bei Chalkeios anfechten. Wer Asylanträge stellt – und das sind fast alle – müsse auf das Festland gebracht werden. Dass das mit den Verpflichtungen, die ihre Regierung im Rahmen des Abkommens EU/Türkei eingegangen ist, nicht vereinbar ist, das wollen die Einwohner von Chios nicht akzeptieren. Sie wollen nur ihre Ruhe wiederhaben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.04.2016)

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