Irak: "Wir regieren nun das Land"

(c) APA/AFP/AHMAD AL-RUBAYE
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Nach dem Sturm auf das Parlament fordert Premier Abadi die Festnahme der Protestteilnehmer, die ihrem Ärger über Proporz Luft machten. Der fragile Staat steht am Rand des Kollaps.

Kairo/Bagdad. Mit versteinerter Miene stand Ministerpräsident Haider al-Abadi vor dem ramponierten Plenarsaal, umringt von betreten blickenden Uniformierten. Die Mikrofone waren herausgerissen, Abgeordnetenbänke zertrümmert, die violetten Sessel chaotisch durcheinandergewirbelt. Der Irak erlebte am Wochenende die bisher brisantesten politischen Tumulte der Post-Saddam-Zeit. Am Samstag machten Tausende Demonstranten, überwiegend Anhänger des schiitischen Predigers Muqtada al-Sadr, ihre Drohung wahr und stürmten das Parlamentsgebäude in Bagdads Grüner Zone.

Die spektakuläre Aktion könnte mit einem Zusammenbruch der Regierung, mit dem Ende des 2003 von den USA implementierten politischen Systems und einem endgültigen Zerfall des Landes enden. Premier Abadi rief den Notstand aus und forderte, die Protestteilnehmer zu bestrafen. Kurdische Politiker erklärten gleichzeitig, nun sei der Zeitpunkt gekommen, sich vom Staat Irak zu verabschieden. In mehreren schiitischen Städten kam es ebenfalls zu Demonstrationen. Die Einheit des Irak wird zudem durch den IS gefährdet, der große Teile des sunnitischen Territoriums kontrolliert. IS-Anschläge im Süden des Landes forderten erst am Wochenende wieder mehr als 30 Menschenleben.

Chancenlose Technokraten

Ausgelöst wurde die Staatskrise durch den Plan von Regierungschef Abadi, sein 21-köpfiges Kabinett komplett zu entlassen und durch eine Ministerriege aus 16 Technokraten zu ersetzen. Regierungsämter sollen künftig nur noch nach Qualifikation und Leumund besetzt werden, nicht mehr nach Parteienproporz, ethnischer Zugehörigkeit oder Religion, erklärte er.

Im Parlament kam es danach zu Faustkämpfen und wüsten Attacken auf den Premier, weil viele Mandatsträger um ihre üppigen Privilegien fürchteten. Trotzdem konnte Abadi am vergangenen Dienstag in einer ersten Etappe sechs Ministerkandidaten durchsetzen, jedoch keinen für die Kernressorts Inneres, Verteidigung, Öl oder Finanzen. Als die zweite Abstimmung am Samstag von einem Großteil der Abgeordneten boykottiert wurde, sodass das Haus beschlussunfähig war, hatten die Demonstranten die Nase voll.

„Wir wollen ein Kabinett der Technokraten“ und „Das ist euer letzter Tag in der Grünen Zone“ skandierte die Menge, die bereits tagelang auf dem Tahrir-Platz am anderen Tigris-Ufer campiert hatte. Ihr populärer Anführer Muqtada al-Sadr inszeniert sich als Volkstribun, der gegen Vetternwirtschaft und miserable Regierungsarbeit zu Felde zieht. „Ich bin auf der Seite des Volkes“, erklärte er in einer TV-Ansprache aus Najaf. Er warte „auf die große Revolution, die den Marsch der korrupten Politiker beendet.“

Parlamentarier verprügelt

Seine empörten Anhänger rissen danach – unbehelligt von den Sicherheitskräften – mehrere der gewaltigen Betonabsperrungen der Grünen Zone nieder. Abertausende drangen in den schwer bewachten Regierungsbezirk ein, in dem sich neben dem Parlament, dem Ministerrat und dem Sitz des Premierministers auch zahlreiche westliche Botschaften befinden. In dem Gebäude der Volksvertretung spielten sich chaotische Szenen ab.

Abgeordnete verbarrikadierten sich im Kellergeschoß oder suchten in Panik das Weite. Einige wurden von der Menge verprügelt. Premierminister Abadi und Parlamentspräsident Salim al-Juburi mussten von Sicherheitsleuten durch Geheimausgänge fortgebracht werden. Andere Politiker fuhren zum Flughafen und verließen das Land. Die Nacht verbrachten Tausende dann in Zelten auf einem Gelände nahe dem Parlament. „Wir regieren nun das Land, die Zeit der Korrupten ist vorbei“, deklamierte ein junger Mann in die Kameras.

AUF EINEN BLICK

Nachdem Demonstranten am Samstag das irakische Parlament in Bagdads Grüner Zone gestürmt hatten, befindet sich das Land in einer tiefen politischen Krise. Parlamentarier wurden verprügelt oder verließen das Land. Hintergrund der Proteste war eine missglückte Regierungsumbildung, die den Weg für ein Technokratenkabinett hätte frei machen sollen. Doch viele Abgeordnete verweigerten ihre Zustimmung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2016)

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