Das Ende der irakischen Nation

A Kurdish migrant family from Irak stands at the door of their wood shelter in a refugee camp with humanitarian-standard shelters in Grande-Synthe
A Kurdish migrant family from Irak stands at the door of their wood shelter in a refugee camp with humanitarian-standard shelters in Grande-Synthe(c) REUTERS (PASCAL ROSSIGNOL)
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Der US-Import der Konkordanzdemokratie ins Zwischenstromland ist gescheitert. Schiiten, Sunniten und Kurden driften immer mehr auseinander. Der Irak löst sich auf.

Kairo. Das Parlament in Bagdad ist ramponiert. Die Grüne Zone hat ihren elitären Schrecken verloren. Mit dem spektakulären Sturm Tausender Demonstranten auf das Zentrum der Macht erlebte der Irak am Wochenende eine Schicksalsstunde. Das Vertrauen des Volks ist komplett zerstört. Die Post-Saddam-Nation steckt in ihrer bisher schwersten existenziellen Krise.

Im Mittelpunkt der politischen Tumulte steht das von den USA eingeführte Modell der Konkordanzdemokratie, das sich vor allem für Staaten eignet, die religiös, ethnisch und sprachlich gespalten sind. Im Westen zählen dazu Kanada, die Schweiz und Belgien, deren Bevölkerung in große Sprachgruppen zerfällt. Im Nahen Osten sind es der Libanon und auch Israel, deren Bewohner religiös oder ethnisch segmentiert sind. Als dritter und kompliziertester Fall gesellte sich 2003 der Irak hinzu – mit dem herbeigebombten Demokratieimport durch die US-Besatzer.

Im Idealfall fungieren bei der Konkordanzdemokratie die Eliten als Klammer zwischen den Volksgruppen und Religionen. Sie formen ein nationales Kartell, eine permanente Führung der nationalen Einheit. Gleichzeitig ist ihre Macht entscheidend eingeschränkt, weil die Verteilung der wesentlichen staatlichen Ressourcen für Gesundheitswesen, Polizei und Gerichtswesen, Infrastruktur und Bildungswesen von vorneherein feststeht. Sie geschieht auf nationaler Ebene nicht in erster Linie abhängig von Wahlergebnissen oder politischen Entscheidungen, sondern auf der Basis von demografischen Quoten – ein Prinzip, welches mögliche Konflikte um Finanzen stark eindämmen soll.

Al-Malikis Metier ist der Machtpoker

Nach gleichem Muster werden im Irak auch politische Spitzenämter und Kabinettsposten, Behördenstellen und Armeedienste verteilt – viel zu oft jenseits von Qualifikation und Eignung der Amtsinhaber. So ist der Parlamentspräsident immer Sunnit, der Präsident ein Kurde und der Regierungschef Schiit. Alle drei Spitzenämter haben wechselseitige politische Vetorechte, sind also auf eine nationale Zusammenarbeit angewiesen.

Der Pferdefuß einer Konkordanzdemokratie: Sie ist auf Dauer nicht stabil, sie muss mit der Zeit aus dem Säulendenken herausfinden. Die verschiedenen Volksgruppen müssen eine gemeinsame nationale Identität entwickeln, die Parteien sich für alle Gruppen öffnen und landesübergreifend agieren. Wenn diese Wandlung gelingt, mildern sich die Segmentierungen mit der Zeit, und die Nation wächst zusammen. Wenn sie misslingt, kann das in Zerfall oder Bürgerkrieg enden. Das hat der Libanon in den 1970er-Jahren erfahren. Und das erlebt der Irak jetzt.

Denn der Prozess einer nationalen Verklammerung von Schiiten, Sunniten und Kurden hat in den 13 Jahren seit der US-Invasion nie stattgefunden. Die Verantwortung dafür liegt zu einem beträchtlichen Teil bei Ex-Premier Nuri al-Maliki. Das Gespür für ein übergeordnetes Gemeinwohl sei seinem Wesen fremd, sagen viele, die ihn näher kennen. Er macht keine Kompromisse aus Überzeugung. Sein Metier ist der harte Machtpoker. Er denkt antagonistisch und zieht in Bagdad immer noch die Fäden.

Unregierbares Chaos

Und so ist der von Premier Haider al-Abadi angestrebte Paradigmenwechsel zu einem Kabinett der Technokraten zunächst einmal ein Konflikt unter Schiiten. Die einen wollen das marode System modernisieren, die anderen klammern sich weiter an ihre einträglichen Quotenpfründe. Auf der Korruptionsskala von Transparency International rangiert das Land unter 168 Staaten auf Platz 161. Entsprechend minimal sind Haider al-Abadis Aussichten auf Erfolg, wenn er sich in den nächsten Wochen überhaupt noch im Amt halten kann. Zu tief sind die Gräben, zu verfeindet die verschiedenen Lager.

Seit Jahren geht es mit dem Irak bergab. Und bald ist das Land unregierbar, gescheitert und faktisch zerfallen. Für die gebeutelte Region entstehen dadurch weitere schwere Hypotheken. Die Kurden könnten sich endgültig aus dem Irak verabschieden. Der Islamische Staat wäre absehbar nicht mehr zu besiegen. Und der verbleibende irakische Schiitenstaat wird sich noch näher an den Iran anlehnen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2016)

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