Brasilien: Nächster Akt im Drama um Rousseffs Sturz

Brasiliens Präsidentin Rousseff hat erklärt, nicht zurücktreten zu wollen. Die Mehrheit der Senatoren denkt jedoch, dass sie das Amt vorerst nicht mehr ausüben soll.
Brasiliens Präsidentin Rousseff hat erklärt, nicht zurücktreten zu wollen. Die Mehrheit der Senatoren denkt jedoch, dass sie das Amt vorerst nicht mehr ausüben soll.(c) APA/AFP/EVARISTO SA
  • Drucken

Am Mittwoch will der Senat über das politische Schicksal der schwer angeschlagenen Präsidentin abstimmen. Die Regierung versuchte, die drohende Amtsenthebung in letzter Minute durch das Oberste Gericht zu stoppen.

Brasilia. Es ist Spätsommer in Brasilia, und über der brasilianischen Hochebene scheint die Sonne, wie von den Meteorologen vorausgesagt. Das Wetter ist derzeit das Einzige, was in Brasiliens Retortenhauptstadt einigermaßen prognostiziert werden kann. Was an der Staatsspitze geschieht, erscheint indes so unwägbar wie ein Flug in ein Tropengewitter. In dieser Woche, in der über die Zukunft der Präsidentin, Dilma Rousseff, entschieden werden soll, wird das politische Brasilia von heftigen Turbulenzen durchgerüttelt.

Heute, Mittwoch, sollen die 81 Senatoren darüber befinden, ob Dilma Rousseff für 180 Tage vorläufig den Regierungspalast räumen muss. Die Sitzung soll um 9 Uhr morgens beginnen, aber weil mindestens 60 Senatoren von ihrem Rederecht Gebrauch machen wollen, ist mit einer Entscheidung erst am späten Abend zu rechnen. Die zweite Kammer soll darüber entscheiden, ob Rousseff im Wahlkampf 2014 die Haushaltszahlen frisieren ließ. Dass sie das getan hat, ist weitgehend erwiesen. Strittig ist, ob das für eine Amtsenthebung ausreicht.

Mehrheit für Absetzung

Offenbar ist jedoch die Mehrheit der Senatoren der Meinung, Rousseff soll einstweilen ihres Amtes enthoben werden, während der kommenden sechs Monaten werden die Senatoren und der Präsident des obersten Gerichtshof gemeinsam über eine endgültige Absetzung entscheiden. Wenn also alles so läuft, wie es Senatspräsident Renan Calheiros prognostiziert hat, müsste Dilma Rousseff am Donnerstag den Palácio do Planalto räumen. Doch wird diese Prognose wirklich halten?

Calheiros Zeitplan schien in die Luft zu fliegen, als am Montag um 11.20 Uhr Ortszeit ein Beschluss des neuen Kongressvorsitzenden bekannt wurde. Waldir Maranhão, ein Veterinär, der erstaunlicherweise genauso heißt wie der Bundesstaat, aus dem er kommt, verfügte, den Impeachment-Beschluss des Parlaments zu annullieren. Am 17. April hatten 367 Abgeordnete nach der längsten Debatte in Brasiliens Parlamentsgeschichte beschlossen, Rousseff ihres Amtes zu entheben, das war weitaus mehr als die erforderliche Zweidrittelmehrheit von 342 Stimmen.
Am Montagmittag befand Maranhão nun, bei dieser Abstimmung sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen. Die Parteien hätten ihre Abgeordneten nicht zur Fraktionspflicht vergattern dürfen, außerdem habe die Regierung nicht genug Gelegenheit zur Verteidigung gehabt. Darum soll das Verfahren in den Kongress zurückgeholt und einer neuerlichen Abstimmung unterzogen werden.

Maranhãos Bombe zeigte Wirkung. Auf São Paulos Avenida Paulista feierten Anhänger Rousseffs vor dem Museum MASP, nur ein paar Hundert Meter weiter, vor dem Gebäude des Industriellenverbands, protestierten die Gegner. Derweil mühten sich Kommentatoren und Juristen um Klärung, ein prominenter Politologe schrieb auf Facebook: „Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit Politik. Aber ich habe überhaupt keine Ahnung, wie das hier jetzt weitergeht.“ Derweil blieb Senatspräsident Calheiros – wie auch Kongresspräsident Maranhão unter den Verdächtigen der Korruptionscausa um Petrobras – bei seiner Linie. Das Thema Impeachment eigne sich nicht für „politische Späße“, am Mittwoch werde abgestimmt.

“Groteske“ um Annullierung

Obwohl Maranhão, als unbekannter Nachrücker in das vorigen Freitag verwaiste Kongresspräsidium gekommen, tapfer beteuerte, es gebe handfeste rechtliche Gründe für die Annullierung, währte sein Beschluss gerade einmal zwölf Stunden. Kurz vor Mitternacht schrieb Maranhão in vier Zeilen an Calheiros, er ziehe die Annullierung zurück. „Eine Groteske“, kommentierte Brasiliens große Tageszeitung „Folha de São Paulo“, während andere Medien ausführlich über Maranhãos Motivationen spekulierten.

Nach der nächtlichen Volte schien also der Weg frei für Michel Temer. Der Vizepräsident bastelt seit Wochen nicht allzu diskret an seinem Kabinett. Am Dienstag teilten dann aber Rousseffs Anwälte mit, die Regierung werde vor dem Obersten Gericht des Landes eine Annullierung des Amtsenthebungsverfahrens verlangen. Ein letzter Rettungsversuch der Präsidentin.

Auf Temers Ministerlisten mit Kandidaten aus der bisherigen Regierung und der Opposition fallen zwei Namen auf: Henrique Mereilles soll die Wirtschaft sanieren. Er war als Zentralbankchef zwischen 2003 und 2011 eine Schlüsselperson für Brasiliens Boom unter Lula. Und José Serra soll Außenminister werden. Serra, einst Gouverneur des Powerhouse-Staates São Paulo von der konservativen Sozialdemokratie, ist 2003 und 2010 Lula und Rousseff unterlegen, er gilt als Administrator, aber nicht als Volkstribun.

Temer, ein 75-jähriger Veteran, der beim Volk wesentlich unbeliebter ist als im politischen Apparat, will die Staatsfinanzen sanieren und die Wirtschaft zu Investitionen ermuntern. In Brasiliens Budget klafft in diesem Jahr ein Loch von umgerechnet 30 Milliarden Euro. Seit Anfang 2015 versuchte Rousseff, das teure Pensionssystem zu reformieren, fand jedoch keinen Rückhalt in der eigenen Koalition. Nachdem sich in den vergangenen Monaten mehrere einstige Koalitionspartner von Rousseff lossagten, hätte die Präsidentin keine parlamentarische Handlungsfähigkeit, selbst wenn sie das Impeachment überstehen würde. Mehrfach betonte Rousseff, sie werde nicht zurücktreten. Ihre Sturheit ist die einzige politische Größe, die derzeit nicht infrage steht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.05.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Nur wenige Wochen im Amt und schon Proteste.
Außenpolitik

Neuer brasilianischer Präsident, neue Korruptionsaffäre

Ein Minister soll versucht haben, die Petrobras-Ermittlungen zu stoppen. Dafür soll er die Amtsenthebung von Ex-Präsidentin Rousseff forciert haben.
Auch Lula selbst ist in den Fokus der Ermittlungen geraten.
Außenpolitik

Brasilien: 23 Jahre Haft für Ex-Kabinettschef

José Dirceu ist wegen Korruption und Geldwäsche verurteilt worden. Er war einst Kabinettschef des früheren Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva.
Brasiliens Übergangspräsident Michel Temer.
Außenpolitik

Brasilien: Mit Privatisierung aus der Krise

Brasiliens Übergangspräsident Michel Temer will die Staatskasse füllen. Sein oberstes Ziel sei es, in Politik und Wirtschaft Ruhe zu bringen.
BRAZIL-TEMER-MINISTERS
Außenpolitik

Brasilien Übergangspräsident soll US-Informant gewesen sein

Michel Temer hat laut der Enthüllungsplattform Wikileaks die US-Botschaft über das Innenleben der brasilianischen Politik informiert.
Interimspräsident Michel Temer.
Außenpolitik

Brasilien: Megaprobleme für Männerkabinett

Nach der Absetzung von Dilma Rousseff hat Interimspräsident Temer seine Regierung vorgestellt. Gewerkschafter sehen in der Riege ausschließlich weißer Männer eine Provokation.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.