Großbritannien: Johnson will wie Churchill sein

 Der ehemalige Londoner Bürgermeister, Boris Johnson, will Premier werden.
Der ehemalige Londoner Bürgermeister, Boris Johnson, will Premier werden.(c) REUTERS (DARREN STAPLES)
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Der ehemalige Bürgermeister Londons führt die Brexit-Befürworter an – und vergleicht die EU mit den Nazis. Über den Krieg reden die EU-Gegner lieber als über die Wirtschaft.

London. Die Auseinandersetzung um das britische EU-Referendum tritt in die heiße Phase und wird immer bizarrer. In einem Interview mit dem „Sunday Telegraph“ erklärte der ehemalige Londoner Bürgermeister, Boris Johnson, dass es in der europäischen Geschichte immer wieder Einigungsbemühungen gegeben habe: „Napoleon, Hitler, verschiedene andere Personen haben es versucht, aber es endete tragisch. Die EU ist ein Versuch, dasselbe zu erreichen, wenngleich mit unterschiedlichen Methoden.“

Johnson steht an der Spitze des Lagers der EU-Gegner. Er gibt oft den Clown, um Dinge zu sagen, die man angeblich nicht sagen darf. Zu seinen Bestsellern zählt eine Biografie des Kriegspremiers Winston Churchill. Auch wenn der Historiker Richard Evans darüber sagte: „Ein Buch über einen Mann, der Geschichte schrieb, von einem Mann, der Geschichte erfindet“, darf man annehmen, dass Johnson seine Worte bewusst gewählt hat.

Indem er die EU mit den Nazis vergleicht, stellt er das Austrittslager in die Tradition eines Churchill, dessen Großbritannien Hitler heldenhaft die Stirn bot, als die Nazis scheinbar unaufhaltsam durch Europa stürmten. Dieser Reflex funktioniert in Teilen der britischen Gesellschaft immer noch – so lange kann der Zweite Weltkrieg gar nicht vorbei sein. „Wir kämpfen für die Freiheit des ganzen Kontinents“, rief Johnson vor seinen Anhängern am Samstag in Bristol. Der Kampf sei zwar „ungleich wie jener zwischen David und Goliath“, aber: „Wir sind besser, mutiger, stärker und größer, als die anderen sagen.“

Erstaunlich kleiner Vorsprung

Über den Krieg sprechen die EU-Gegner viel lieber als über die Wirtschaft. Dabei ist in den ersten zwei Wochen Intensivkampagne eine ganze Sturzflut an Studien und Einschätzungen über die Wähler hereingebrochen, die alle im Fall eines EU-Austritts schwerwiegende und langfristige Schäden sehen. Von der Bank of England bis zum IWF, von der OECD bis zu Beratungsunternehmen wie PWC reicht die Liste. „Außerhalb der EU wären wir dauerhaft ärmer“, sagt Schatzkanzler George Osborne.

Dennoch glauben nur 33 Prozent der Briten, dass sie in der EU wirtschaftlich besser dastehen, während 29 Prozent denken, sie hätten es besser im nationalen Alleingang. Angesichts der erdrückenden Übermacht der warnenden Stimmen und düsteren Prognosen ist das ein erstaunlich kleiner Vorsprung. Die starke Seite der EU-Gegner ist die Wirtschaft jedenfalls nicht. Osborne wirft ihnen „ökonomisches Analphabetentum“ vor. Bank-of-England-Gouverneur Mark Carney hat doppelt so hohe Glaubwürdigkeitsraten wie etwa Johnson, der seinerseits wiederum Premierminister David Cameron hinter sich lässt. Lieber spricht man daher von Souveränität und Einwanderung. 57 Prozent der Briten glauben, dass ihr Land nur bei einem EU-Austritt volle Kontrolle über seine Grenzen gewinnen könne. Zur Anrufung Churchills („Wir werden uns niemals geschlagen geben.“) ist es nur ein kleiner Schritt.

Für und gegen Einwanderung

Das Ressentiment gegen unkontrollierte Einwanderung und die daraus resultierenden Belastungen schürte in der Vergangenheit der Populist Nigel Farage von der United Kingdom Independence Party. In der aktuellen Auseinandersetzung scheint er seinen Meister zu finden.

Während sich Farage ungewohnt zurückhält, schwadroniert Johnson an einem Tag über die „halb kenianische Abstammung“ von US-Präsident Barack Obama und sieht am nächsten Tag „77 Millionen Türken“ nach Großbritannien kommen. Bisher galt der frühere Londoner Bürgermeister als liberal und weltoffen. 2013 schrieb er: „Ich bin wahrscheinlich der einzige Politiker, der für Einwanderung ist.“ Doch jetzt geht es um alles – Johnson möchte über den Austritt seines Landes das Amt des Premiers erringen – und da zählen nicht Überzeugungen, sondern Aufmerksamkeit. Nichts garantiert das besser als Sprüche über Hitler. Die Labour-Abgeordnete Yvette Hunt: „Boris Johnson spielt ein sehr, sehr schmutziges Spiel.“

Siehe auch Seite 13

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2016)

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