Al-Qaida ist nicht nur erstarkt. Die Terrororganisation rückt auch näher an Europa – und treibt dabei ihre Pläne für ein „Emirat“ in Syrien voran.
Wien. Der Mann, der sich Saif al-Adel nennt, war einst Oberst in Ägyptens Militär. Sein zweites Leben führte ihn in die „Basis“, wie al-Qaida übersetzt heißt. Er orchestrierte in den Neunzigerjahren Anschläge auf US-Botschaften in Ostafrika. Heute soll der Ägypter dem erweiterten al-Qaida-Führungszirkel angehören: dem Schura-Rat. Fünf Mio. Dollar bietet das FBI für seinen Kopf. Allerdings weiß niemand, wo der Mann auf der „Most wanted terrorists“-Liste steckt. Rückzugsorte gibt es für ihn heute mehr denn je: neben Pakistan etwa den Jemen, Libyen – oder Syrien.
Mehr als ein Dutzend al-Qaida-Anführer, darunter möglicherweise auch al-Adel, sind in das Bürgerkriegsland aufgebrochen, berichtet die „New York Times“. Die al-Qaida-Elite hat einen Auftrag: die Errichtung eines alternativen Hauptquartiers zu jenem in Pakistan. Erstens lässt sich im Nahen Osten besser rekrutieren, zweitens rückt das Terrornetzwerk dadurch näher an den Feind im Westen. Die al-Qaida-Mitglieder sollen zudem die Möglichkeiten ausloten, ein Emirat in der nordwestlichen Provinz Idlib zu errichten, dort also, wo der al-Qaida-Ableger al-Nusra-Front das Sagen hat. Terrorpate Zawahiri versucht so aus dem Schatten von Abu Bakr al-Baghdadi zu treten, dem Anführer der in die Defensive geratenen Terrormiliz IS. Und die Bühne für den Konkurrenzkampf der Terrororganisationen reicht längst um die halbe Welt.
Im Bund mit den Terroristen
Eine Gewissheit begleitete gestern das Syrien-Treffen in Wien: Für die al-Nusra-Front und den IS gilt der Waffenstillstand nicht. Es kommt dem Assad-Regime nun gelegen, dass unter den Rebellengruppen in Aleppo auch die Schergen der al-Nusra-Front sind. Ob ein Angriff den Terroristen oder nur dem Geländegewinn gilt, lässt sich nicht immer einwandfrei sagen. Russlands Außenminister Sergej Lawrow klagte in Wien, einige Oppositionsgruppen würden (im Schutz des mitgetragenen Waffenstillstands) an der Seite der Jihadisten weiterkämpfen.
Al-Nusra ging bereits Kooperationen mit moderaten Gruppen ein, Rebellen schätzen den al-Qaida-Ableger trotz aller Gräuel für seine Kampfkraft. Die al-Nusra-Front „nistete sich so dauerhaft in der Oppositionsbewegung ein, dass sie schwieriger aus Syrien zu vertreiben sein wird als der IS“, meinte Terrorexperte Charles Lister, der nun von den Plänen für ein Emirat berichtet hat. Al-Qaida habe für das Vorhaben aber keine Unterstützung vor Ort gefunden. Das hat Gewicht.
Die Nachfolger der 9/11-Massenmörder geben sich trotz radikaler Ideologie als gemäßigtere IS-Variante, wollen „gewöhnliche Muslime“ nicht verschrecken, so Lister. Die Taktik geht auf: Im Schutz der al-Nusra-Front hat sich die Chorasan-Gruppe festgesetzt. Die Einheit hatte nur eine Aufgabe: die Planung von Anschlägen auf den Westen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.05.2016)