Türkei: "Europa lässt sich von Erdoğan erpressen"

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Die deutsche Kanzlerin geht einen Tag vor ihrem Besuch in Ankara auf Distanz zur türkischen Regierung. Doch ihr Spielraum ist klein: Staatspräsident Erdoğan ist gestärkt, die Opposition fühlt sich von der EU verraten.

Wien. Die Europäische Union und insbesondere Angela Merkel haben in den vergangenen Monaten viele Freunde in der Türkei verloren. Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdoğan werfen der EU und der deutschen Bundeskanzlerin vor, zunehmende Verstöße Erdoğans gegen demokratische Werte zu ignorieren, um sich die Kooperationsbereitschaft Ankaras in der Flüchtlingskrise zu sichern. Einschneidende Änderungen dieser Haltung von Brüssel und Berlin sind beim erneuten Besuch der Kanzlerin in Istanbul an diesem Montag nicht zu erwarten.

Merkel betonte allerdings in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, einige Entwicklungen wie die drohende Strafverfolgung kurdischer Politiker nach der Immunitätsaufhebung am Freitag bereiteten ihr große Sorge. Ihre als Kotau vor Erdoğan kritisierte Linie in der Flüchtlingskrise rechtfertigte die Kanzlerin mit dem Hinweis auf die „Notwendigkeit zum Interessenausgleich“.

Die Kanzlerin wollte ihren kaum 24 Stunden langen Besuch am Bosporus am Sonntagabend mit einem Treffen mit Vertretern der Zivilgesellschaft beginnen. Politikerinnen wie Feleknas Uca, eine aus Deutschland stammende Abgeordnete der türkischen Kurdenpartei HDP, die zusammen mit rund 50 Fraktionskollegen nach der Immunitätsaufhebung schon bald vor dem Richter stehen könnte, waren nicht eingeladen.

Was Uca der Kanzlerin bei einem solchen Treffen sagen würde, wäre für Merkel wahrscheinlich nicht sehr angenehm. „Europa lässt sich von Erdoğan erpressen“, schimpfte Uca im Interview mit der „Presse“. Wegen der Hilfe Ankaras bei der Drosselung des Flüchtlingsstroms werde bei Menschenrechtsverletzungen und Übergriffen der Sicherheitskräfte gegen Zivilisten schweigend zugesehen. „Europa muss Erdoğan die Rote Karte zeigen“, sagte sie.

Viel Hoffnung, dass dies geschehen wird, hat Uca nicht. Sie selbst rechnet damit, bald vor Gericht gestellt zu werden. Erdoğan bezeichnet die HDP offen als Helferin der kurdischen PKK-Terroristen, die im Parlament nichts verloren habe.

Ziel: Präsidialsystem

Der 62-jährige Staatspräsident reitet derzeit auf einer Welle des Erfolges. Sein Land erntet international Beifall für die Versorgung von 2,7 Millionen syrischen Flüchtlingen und darf an diesem Montag in Istanbul den ersten Humanitären Gipfel der Vereinten Nationen ausrichten. Innenpolitisch schickt sich Erdoğan an, die HDP mit der Immunitätsaufhebung politisch kaltzustellen. So kommt Erdoğan seinem großen Ziel – der Einführung eines Präsidialsystems – jeden Tag ein Stück näher.

Deshalb ist kaum zu erwarten, dass der türkische Präsident im Gespräch mit Merkel zu Kompromissen in wichtigen Fragen bereit sein wird. Auf das Nein zur EU-Forderung nach Änderungen der türkischen Terrorgesetze hat er sich öffentlich festgelegt. Erdoğan sieht sich und sein Land im Umgang mit der EU wegen der Flüchtlingskrise nach wie vor am längeren Hebel. Einer seiner Berater drohte kürzlich erneut damit, syrische Flüchtlinge massenweise nach Europa zu schicken.

Der designierte neue Ministerpräsident der Türkei, der bisherige Erdoğan-Berater und Verkehrsminister Binali Yildirim, will sich diesem Kurs des Chefs völlig unterordnen. Bei seiner Wahl zum AKP-Chef als Nachfolger von Davutoğlu betonte Yildirim am Sonntag bei einem Sonderparteitag in Ankara seine Loyalität zu Erdoğan und versprach, alles für eine rasche Einführung des Präsidialsystems zu tun.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2016)

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