Türkei: Merkels Balanceakt am Bosporus

Turkish President Erdogan chats with German Chancellor Merkel, U.N. Secretary-General Ban Ki-moon and Greek Prime Minister Tsipras during the World Humanitarian Summit in Istanbul
Turkish President Erdogan chats with German Chancellor Merkel, U.N. Secretary-General Ban Ki-moon and Greek Prime Minister Tsipras during the World Humanitarian Summit in IstanbulREUTERS
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Die deutsche Kanzlerin traf beim UN-Nothilfegipfel in Istanbul mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan zusammen. Das Flüchtlingsabkommen und die Visumliberalisierung wanken.

Istanbul. Angela Merkel ist schon viel zu lang in der Politik, um sich von einem Rückschlag beeindrucken zu lassen. Oder von der Unbeugsamkeit eines Recep Tayyip Erdoğan. Nicht das erste Mal in ihrer Karriere brauche die Umsetzung geschlossener Verträge ihre Zeit, sagt die deutsche Bundeskanzlerin am Montag nach einer offenbar nicht sehr harmonischen Begegnung mit dem türkischen Präsidenten am Rande des UN-Nothilfegipfels in Istanbul.

Erdoğan beklagte beim UN-Treffen, dass in der größten globalen humanitären Krise seit dem Zweiten Weltkrieg die Last nicht fair verteilt sei. 125 Millionen Menschen brauchen nach Angaben der UNO Hilfe, 60 Millionen sind auf der Flucht. 20 Milliarden Dollar brauchten die Vereinten Nationen, um den Bedürftigen unter die Arme zu greifen. Doch nur ein Drittel davon ist gesichert.

Demokratie-Defizite in der Türkei? Erdoğan will bei seinem Treffen mit Merkel keine erkennen, während die Kanzlerin tiefe Besorgnis darüber ausdrückt, dass das türkische Parlament gerade den Weg für die Strafverfolgung kurdischer Abgeordneter freigemacht hat. Visumfreiheit? Erdoğan bleibt dabei, dass er Änderungen an den türkischen Anti-Terror-Gesetzen, die zu den 72 Bedingungen der EU für die Reisefreiheit gehören, nicht angehen will.

Europa muss Härte zeigen

Merkel reagiert mit einem Schulterzucken. Dann eben nicht: Da nicht alle Kriterien erfüllt seien, werde wohl nichts aus der Visumfreiheit schon im Juni. Das war das große Ziel des von Erdoğan geschassten Ministerpräsidenten, Ahmet Davutoğlu. Da werden EU und Türkei wohl noch intensiv miteinander reden müssen, sagt Merkel: Sie weiß genau, dass viele Türken das Ende der komplizierten und teuren Visumverfahren bei Reisen nach Europa herbeisehnen. Mit ihrem Hinweis auf weitere Gespräche, die jetzt wohl nötig seien, lässt die Kanzlerin Erdoğan und die türkische Regierung wissen, dass Europa nicht alle türkischen Forderungen erfüllen wird. Ohne türkische Zugeständnisse gibt es keine Visumfreiheit.

Merkel setzt offenbar darauf, dass sich diese Einsicht irgendwann beim türkischen Präsidenten einstellt. „Wenn es etwas länger dauert, um die vollständige Umsetzung zu schaffen, dann müssen wir eben intensiv miteinander sprechen, das ist meine Einstellung dazu.“

Erosion des Rechtsstaates, Demokratieabbau, Kurdenproblem – die Themen, die Merkel mit Erdoğan bespricht, sind ungewöhnlich für einen Besuch einer Regierungschefin in einem Partnerland: Es geht fast nur um innenpolitische Fragen. Merkel steht zu Hause unter Druck – 59 Prozent der Deutschen erwarten laut Politbarometer ein Scheitern des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei – und muss deshalb in Istanbul klare Töne gegenüber Erdoğan finden, um den Eindruck aus der Welt zu schaffen, sie lasse sich vom türkischen Staatschef wegen des Flüchtlingsthemas erpressen.

„Man braucht ein dickes Fell“

Bei ihrer Begegnung mit Vertretern der türkischen Zivilgesellschaft am Sonntagabend gibt Merkel erste Hinweise darauf, dass sie weiß, was sie bei Erdoğan erwartet. „Sie war sehr gut informiert“, berichten Teilnehmer des Gesprächs, das in einem Luxushotel am Bosporus stattfindet. Unter den Eingeladenen sind prominente Erdoğan-Gegner: etwa Metin Feyzioğlu, Präsident der türkischen Anwaltskammer, der Erdoğan mit einer Rede vor ein paar Jahren so verärgerte, dass dieser vor laufenden Kameras wutentbrannt aus dem Saal stürmte. Das Gespräch ist auf eine Stunde angelegt, dauert aber mehr als zwei. Das Thema syrische Flüchtlinge spielt nur eine Nebenrolle, die Unterredung dreht sich vor allem um die politische Lage in der Türkei. Erdoğan will ein Präsidialsystem einführen und räumt ein Hindernis nach dem anderen aus dem Weg.

Bei der Begegnung Merkels mit den Menschenrechtlern haben Teilnehmer auch den Eindruck, Merkel sei sich klar darüber, dass Erdoğan alle kritischen Bemerkungen ihrerseits sofort innenpolitisch ausbeutet. „Sie kann da nicht einfach reingehen und ihm die Sachen vor den Latz knallen, das weiß sie. Es ist ein Balanceakt. Sie wägt die Wirkung aller Äußerungen ab, die sie in der Türkei macht“, berichtet ein Teilnehmer. Außerdem kenne Merkel den Charakter Erdoğans: „Sie weiß, dass man ein dickes Fell braucht bei ihm.“

(Print-Ausgabe, 24.05.2016)

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