Andrij Sadowyj: „Wir zweifeln Legitimität der Kiewer Regierung an“

Die Einheit des Landes sei ihm wichtig, sagt Bürgermeister Andrij Sadowyj.
Die Einheit des Landes sei ihm wichtig, sagt Bürgermeister Andrij Sadowyj.Jutta Sommerbauer
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Andrij Sadowyj, Bürgermeister von Lemberg, positioniert sich nach dem Austritt seiner Partei, Selbsthilfe, aus der Kiewer Koalition als wertegetriebener Regierungskritiker.

Sie haben die österreichische Präsidentenwahl mitverfolgt. Wie ist Ihr Kommentar zum knappen Ergebnis?

Andrij Sadowyj: Es ist beunruhigend. Wir wollen ein einiges Europa sehen. Die Situation in Österreich, wo der Kandidat der Ultrarechten die Hälfte der Bevölkerung hinter sich hat, das Erstarken ultrarechter Positionen in Deutschland und Frankreich – all das wirft Fragen auf. Als vor einigen Jahren in der Ukraine die Ultrarechten ein paar Prozent bekamen, waren viele europäische Medien überzeugt, das dass sehr gefährlich sei. Heute liegen diese Parteien in vielen europäischen Ländern bei über zehn oder gar 20 Prozent. Der heutige Krieg ist hybride, heute siegen nicht die Panzer, sondern diejenigen, die dem Gegner Formeln in den Kopf pflanzen, die ihm selbst nützen.

Sie spielen auf die prorussischen Positionen europäischer Rechtsparteien an.

Natürlich. Ihre Vertreter reisen in Delegationen auf die von Russland besetzte Krim. Wir haben eine lange Grenze mit Russland und unsere bilateralen Beziehungen sind traditionell nicht einfach. Wir haben zu Beginn der 1990er im Rahmen des Budapester Memorandums unser Atomarsenal aufgegeben, doch die Sicherheitsgarantien haben nichts genützt. In Russland ist Papier nichts wert. Die Krim und der Donbass sind heute besetzt. Auch vor vielen Jahrhunderten haben wir die Goldene Horde aufgehalten. Wir haben nicht jene Entwicklung erhalten, die Europa genießen konnte. Aber wir haben Europa und seine Werte verteidigt.

Dennoch haben Österreich und Russland eine tiefe Beziehung, die letzten Visiten zeugen davon. Als Ukrainer und Bürgermeister einer ehemaligen K&K-Stadt: Wie finden Sie das?

Österreich ist kein einfaches Land. Wien wurde von Russland befreit nur unter der Voraussetzung, dass es einen neutralen Status erhält. Dort stand in den 1950ern ein sowjetisches Kontingent. Diese Umstände zeigen heute noch ihre Wirkung. Für uns ist das natürlich sehr schmerzhaft. Österreich ist für uns Europa.
Im Habsburger Reich hat sich der heutige Westteil der Ukraine sehr gut entwickelt, hier wurde Erdöl gefördert und der Erlös ging ins Budget. Umgekehrt hat man hier investiert und gut gebaut – so gut, dass die Gebäude auch nach 100 Jahren noch in Ordnung sind.
Russland nutzt Österreich und die guten Beziehungen in gewisser Weise aus. Ich möchte, dass Europa für Werte steht. Wenn Geld die Werte ablöst, ist das schlecht.

Lassen Sie uns über die Ukraine sprechen. Im Februar ist Ihre Partei „Selbsthilfe“ aus der Koalition ausgestiegen und hat damit ihr Ende besiegelt. War das nicht verantwortungslos?

Wenn man starke Bürger möchte, muss man ihnen die Wahrheit zumuten. Das haben wir bei den Parlamentswahlen versprochen. Als wir bemerkten, dass der Einfluss der Oligarchen in der Regierung zunimmt, beschlossen wir den Ausstieg. Heute gibt es keine reale Koalition. Der Block Petro Poroschenko (Partei des Präsidenten, Anm.) und Volksfront (von Ex-Premier Arsenij Jazenjuk, Anm.) nutzen die Stimmen der Abgeordneten, die den Oligarchen Rinat Achmetow, Ihor Kolomojskij und Dmitro Firtasch nahestehen. Wir machen da nicht mit. Wir stimmen nur noch bei Gesetzen mit, die für das Land wichtig sind.

Etwa?

Alles, was die Implementierung des EU-Assoziierungsabkommens oder die Steuergesetzgebung betrifft.

In Kiew wurde vor kurzem der Vertraute des Präsidenten, Jurij Luzenko, zum Generalstaatsanwalt ernannt, obwohl er keine juristische Ausbildung hat. Wie hat Ihre Fraktion gestimmt?

Selbsthilfe war eindeutig gegen die Gesetzesänderung, die Luzenko die Kandidatur ermöglicht hat. Wir zweifeln die vollständige Legitimität der Regierung an, für sie wurden nicht gestimmt, sondern man hat sich verabredet. Wichtig jetzt wäre die Annahme des neuen Wahlgesetzes. Es geht dabei um offene Listen, um den Einfluss der Oligarchen zu minimieren. Bei uns werden Parteinamen wie Franchiseunternehmen verkauft, Oligarchen kaufen sich ein und besetzen sie mit ihren Leuten. Poroschenko ist mit Transparenz angetreten, doch heute ist es so, dass die Oligarchen einen sehr großen Einfluss über die Partei haben. Ich würde die Unterstützung der EU von der Annahme dieses Gesetzes abhängig machen.

Das Oligarchen-System ist das Problem der Ukraine. Kann man das überhaupt ändern?

In den erfolgreichen Ländern dieser Welt gibt es Parteien, die auf ideologischen Füßen stehen. Ich sehe es als meine Aufgabe, eine erfolgreiche ideologische Partei aufzubauen. Wir suchen im ganzen Land nach Leuten, die unsere Werte teilen. Das ist harte Arbeit.

Ihre Partei wird als regionales, westukrainisches Phänomen wahrgenommen.

Bei den letzten Lokalwahlen haben wir in allen Regionen gute Ergebnisse bekommen. Wir wollen Stabilität und eine normale Gesetzgebung. Wenn die Staatsführung in Offshore-Firmen verwickelt ist, was sollen die Leute davon halten? Wozu hat man Offshore-Firmen? Um Steuern zu umgehen. Einen anderen Grund gibt es nicht. Deshalb ist das Vertrauen bei Null.

Sie sprechen nicht mehr wie ein Bürgermeister, sondern wie ein Politiker, der nach Höherem strebt. Bisher aber haben Sie alle Jobangebote ausgeschlagen. Wann greifen Sie zu?

Ich bin Realist. Unsere Partei hat im Parlament 24 Sitze, und der Präsident schlägt mir den Premiersposten vor. Wie kann man ein erfolgreicher Premier sein, wenn man im Parlament nicht die Unterstützung hat? Ich kann keinen Vorschlag annehmen, der mir nicht erlaubt, unsere Visionen umzusetzen.

Wann kommt das?

Wenn wir nach den nächsten Wahlen die Unterstützung der Mehrheit der Menschen bekommen, können wir an der Macht sein. Legitimität ist sehr wichtig.

Befürworten Sie vorgezogene Neuwahlen?

Nein, wir wollen das nicht. Angesichts der Lage im Osten wären Wahlen in diesem Jahr verantwortungslos. Außerdem wollen wir, dass das Gesetz über die Wahlen angenommen wird.

Man sagt, dass sie mit Micheil Saakaschwili, dem georgischen Expräsidenten und nunmehrigen Gouverneur von Odessas, ein politisches Projekt planen.

Wir haben sehr gute freundschaftliche Beziehungen. Wir treffen uns häufig in Lemberg, Odessa oder Kiew. Sein Posten verunmöglicht es ihm derzeit, eine Partei anzuführen. Vor den nächsten Wahlen kann man drüber reden. Noch ist es zu früh.

Kommen wir zum Krieg im Donbass. Wie halten Sie es mit den im Minsker Abkommen vorgesehenen gesetzlichen Veränderungen – Stichwort Durchführung von Lokalwahlen in den Separatistengebieten?

Ich kenne keinen Fall, wo man Wahlen in einem besetzten Territorium durchführt, auf dem sich laut Nato bis zu 10.000 russische Soldaten befinden. Russland zieht sie nicht ab. Seit zwei Jahren wird den Menschen dort das Gehirn gewaschen. Wie soll man dort Wahlen nach ukrainischem Recht abhalten? Das ist ein Mythos. Jemand will eine rosa Brille aufsetzen und behaupten, es gebe kein Problem. Die Lage ist aber sehr ernst.
Wir fordern den Abzug der russischen Streitkräfte, die Kontrolle der ukrainischen Staatsgrenze durch unsere Behörden. Erst danach können die Menschen dort wieder unabhängige Informationen erhalten. Dann wird man auch über Wahlen nachdenken können.

Wie sollte denn die Strategie der Ukraine für den Donbass aussehen?

Um Russland in diesem Krieg besiegen zu können, muss der Lebensstandard im Land doppelt so hoch sein als in Russland. Wir müssen ernsthafte Reformen in unserem Land durchführen. Zweiter Aspekt: Wir benötigen mehr Druck von den USA, Großbritannien und Frankreich, die das Budapester Memorandum unterzeichnet haben.

Vor kurzem haben nationalistische Hacker in der Ukraine eine Liste mit den persönlichen Daten von Journalisten veröffentlicht, die bei den Separatisten akkreditiert waren. Wie stehen Sie zur Veröffentlichung?

Journalisten müssten geschützt werden, es darf nicht passieren, dass ihr Leben oder ihre Gesundheit in Gefahr ist. Ich stehe hier auf Seiten der Journalisten.

Würden Sie als Bürgermeister gerne den Song Contest (ESC) 2017 in Lviv austragen?

Jamala hat gewonnen, die Ukraine als Land hat gewonnen. Lviv ist bereit. Ich möchte aber nicht, dass die Städte anfangen zu konkurrieren. Für mich aber ist die Einheit des Landes am wichtigsten.

Unter den ESC-Fans gibt es viele Homosexuelle. Ist die Ukraine bereit, diese Fans zu empfangen?

In der Ukraine ist der Anteil von Menschen mit nicht-traditioneller sexueller Orientierung wohl gleich hoch wie in Österreich, Frankreich oder Deutschland. Was man bei uns nicht mag, ist, wenn man versucht zu provozieren.

In Lviv mussten unlängst homosexuelle Aktivisten vor Ultrarechten in Sicherheit gebracht werden. Die Polizei schritt erst spät ein.

Ein schmerzhaftes Beispiel. Eine Gruppe von Kiewern hatte entschieden, bei uns einen Marsch abzuhalten.

Ist ein Marsch eine Provokation?

Die hiesigen Vertreter der Homosexuellen wollten da gar nicht mitmachen. Irgendwer kommt aus einer anderen Stadt zu uns - wer braucht das? Außerdem fand das absichtlich kurz vor dem niederländischen Referendum über das Assoziierungsabkommen der Ukraine statt. Für mich ist das eine Provokation.

Aber die Polizei sollte doch die Aktivisten vor Übergriffen schützen.

Die Polizei hatte vorher das Gericht gebeten, die Veranstaltung nicht zuzulassen. Ich sage Ihnen nochmals: Der Anteil der Homosexuellen ist überall gleich hoch. Auch in Lviv leben und arbeiten diese Menschen ganz normal. Bei uns ist die Kirche sehr stark, und wenn Homosexuelle anfangen, gegen die Ideale der Kirche aufzutreten, ist das nicht richtig. Toleranz bedeutet auch die Achtung des anderen.

Bei der Veranstaltung ging es ja um Toleranz, und es war nicht der erste dieser Art in der Ukraine.

Man sollte zuerst nachdenken, und dann handeln, nicht umgekehrt. Alle Leute, die unser Land achten, sind hier herzlich willkommen.

ZUR PERSON

Andrij Sadowyj ist seit 2006 Bürgermeister der westukrainischen Stadt Lwiw (Lemberg). Lwiw wurde unter seiner Führung zum Touristenziel; auch die Aktivierung der lokalen Wirtschaft schreibt man Sadowyj zu. 2012 wandelte er den Verein „Selbsthilfe“ (Samopomitsch) zur Partei um, die 2014 ins Parlament einzog. Bis Februar war die proeuropäisch und christlich-konservativ positionierte Kraft Teil der Regierung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.05.2016)

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