Sommer treibt die Flucht über das Meer an

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Mit dem wärmeren Wetter steigt die Zahl der Menschen, die die gefährliche Überfahrt nach Europa wagen. Auch die Zahl der Opfer steigt laut Flüchtlingshilfswerk. In Italien fehlen die Unterkünfte.

Rom. Mit Sommerbeginn wird die Lage im Mittelmeer wieder dramatisch: Allein am Samstag sind in 16 getrennten Einsätzen 1900 Flüchtlinge gerettet, in den sechs Tagen zuvor 13.000 aus dem Wasser gezogen worden. Die Küstenwache barg an die 100 Leichen, Hunderte Menschen gelten als vermisst. Die Zahlen stammen von der italienischen Küstenwache, die als Leitstelle für die Schiffe der gesamteuropäischen „Operation Sophia“ fungiert. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR schätzt, dass allein in der Vorwoche 700 Flüchtlinge bei der Überfahrt ertrunken sind.

Unruhe schürt im Land, dass alle irgendwo zwischen Libyen, Ägypten, Malta und Sizilien Geretteten ausschließlich nach Italien gebracht werden und dort aufgenommen werden müssen. Hinzu kommt, dass in der öffentlichen Wahrnehmung doppelt so viele Flüchtlinge als in der Realität eintreffen, denn die Betroffenen werden „doppelt“ gezählt: wenn sie aus den Wellen gerettet werden und nochmals, wenn dieselben Personen auf dem Festland ankommen.

Premier Matteo Renzi betont unentwegt, von einer Notlage könne derzeit keine Rede sein; die Zahl der in Italien angelandeten Flüchtlinge – gut 40.000 seit Jänner – bewege sich auf dem Niveau des vergangenen Jahres. Zahlen, die auch von internationalen Organisationen bestätigt werden. Syrer sind kaum unter ihnen, was dafür spricht, dass die gefährliche „zentrale Mittelmeerroute“ auch nach der Abriegelung der Balkanstaaten bisher nicht neu entdeckt wurde. Derzeit kommen über Libyen praktisch nur Menschen aus Afrika – vor allem aus Nigeria, Gambia, der Elfenbeinküste, deren Asylanträge fast zur Gänze abgewiesen werden, sowie Somalia und Eritrea. Offenbar nimmt auch die Zahl unbegleiteter Minderjähriger wieder zu. Allein auf einem Schlepper, der am Samstag mit 890 Flüchtlingen in Sizilien an Land ging, befanden sich 122 Kinder und Jugendliche.

Währenddessen sind die Aufnahmestrukturen in Italien zum Bersten voll. Derzeit leben dort laut Innenministerium etwa 116.000 Personen. Mit einem Rundschreiben hat Rom die Präfekten in 80 Provinzen aufgefordert, jeweils weitere 70 Plätze zu finden. Größere Pläne, Flüchtlinge gleichmäßig über das Land zu verteilen, sollen im Juni vorgestellt werden – nach den Kommunalwahlen in den bedeutendsten reichen Großstädten. Innenminister Angelino Alfano wies jedenfalls zum ersten Mal darauf hin, dass die Geretteten in Italien bleiben müssen: „Vor drei Jahren, als bei uns 170.000 angekommen sind und in anderen Ländern niemand, waren wir bei der Forderung nach Weiterverteilung im Vorteil. Heute, mit dermaßen vielen Ankünften in Griechenland, Ungarn, Österreich ist nicht gesagt, dass wir unter den Staaten sind, die Flüchtlinge abgeben können; womöglich müssen wir welche zurücknehmen.“

Die EU müsse schnell ein Abkommen mit Libyen schließen, „wo es ja jetzt eine Regierung gibt“, sowie Verträge mit afrikanischen Staaten „zur Rücknahme von Flüchtlingen und zur Errichtung von Flüchtlingscamps“.

Noch kein Alarm auf dem Brenner

Auf dem Brenner ist die Lage bisher ruhig. Derzeit seien die Übertritte laut Tiroler Landespolizeidirektor Helmut Tomac „durchaus überschaubar“. Falls aber der Kontrolldruck auf italienischer Seite nachlassen sollte, rechnen Tirols Behörden mit einem sofortigen Anstieg und einem Zustrom in Richtung Norden. Die Provinz Bozen rüstet sich jedenfalls für einen größeren Zustrom und baut Aufnahmelager – auch aufgrund der Erfahrungen an der Riviera, an der Frankreich seine Grenze zu Italien abgeriegelt hat. Auch wenn die Flüchtlinge wissen, dass sie dort nicht weiterkommen, so strömen immer neue dorthin. „Die Filter im Hinterland funktionieren nicht“, kritisiert der Bürgermeister der Grenzstadt Ventimiglia, Enrico Ioculano.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2016)

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