Schlepper entdecken die Route über Kreta nach Italien neu

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Fast 200 Menschen sind innerhalb einer Woche vor der griechischen Insel aufgegriffen worden.

Athen. Neue Wendung im ägäischen Flüchtlingsdrama: Nachdem die Zahl der ankommenden Bootsflüchtlinge auf den Ägäis-Inseln in den vergangenen zwei Monaten drastisch gesunken ist, werden seit einigen Tagen wieder vermehrt Ankünfte vermerkt. Diese allerdings nicht auf den üblichen Inseln der Ostägäis – Lesbos, Chios und Samos –, sondern auf Kreta, mehr als 200 Seemeilen davon entfernt. Am Dienstag wurde an der Nordostküste der Insel ein Boot mit 113 Flüchtlingen in Seenot gerettet – in der Ostägäis gab es zur gleichen Zeit nur 15 Ankünfte. Fünf Tage vorher wurden an der Südküste von Kreta 65 Flüchtlinge aufgegriffen. Ist eine neue Route entstanden?

Fest steht, dass die 113 Neuankömmlinge von Antalya an der Südküste der Türkei in See stachen, nicht in Nordafrika. Es handelt sich um Afghanen. Auch in der vergangenen Woche kamen vor Kreta gerettete Flüchtlinge aus asiatischen Staaten: Syrien, Pakistan, Irak und Afghanistan.

Gänzlich neu ist die Route allerdings nicht: Seit Jahren existiert die „lange“ Westroute aus der Türkei in Richtung Italien. Sie war allerdings 2015 durch die billigere – und weit sicherere – Ostägäisroute über Griechenland ersetzt worden. Nachdem nun an Griechenlands Nordgrenzen die Wege nach Europa versperrt wurden, gewinnt die weite Westroute wieder an Bedeutung, denn sie umgeht Griechenland.

Wilde Camps nach Idomeni-Räumung

Ziel ist nicht Kreta, sondern Italien, die Boote hatten Maschinenschaden. Die Flüchtlinge in Lasithi in Südkreta wollten dem Vernehmen nach auch gar nicht an Land. Sie wurden bereits auf eine nicht näher genannte Insel der Ostägäis verschifft und müssen mit Abschiebung rechnen. Schlepper hätten ihnen versprochen, sie nach Italien zu bringen, gaben sie laut Polizei an. Zwei Männer wurden wegen des Verdachts auf Schlepperei festgenommen. Sie stammten aus Kroatien und Montenegro.

Die Lage in Nordgriechenland bleibt inzwischen trotz der erfolgreichen Räumung der informellen Zeltstadt von Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze gespannt. Die Polizeiaktion vergangene Woche, die weltweit für Aufsehen gesorgt hatte, ging zwar friedlich, geordnet und vor allem viel schneller vor sich, als erwartet, sorgte aber für Nebeneffekte, mit denen die Behörden offensichtlich nicht gerechnet hatten. Denn 3000 bis 4000 Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten haben sich den organisierten Bustransporten entzogen und lagern weiterhin in wilden Camps in der Umgebung, die allerdings nun weit im Gebiet der Gemeinden Polykastro (Peonia) und Kilkis im Vardartal verstreut sind.

An die 1300 harren unter unvorstellbaren Bedingungen beim Motel Chara, sechs Kilometer von Idomeni entfernt, aus. Hier bestand bereits ein Camp von Menschen, vor allem aus Afghanistan, die Abstand zu den Syrern in Idomeni halten wollten. Nach der Räumungsaktion hat der für ein geordnetes Lager völlig ungeeignete Platz bedeutenden Zulauf bekommen.

Mitten in Feldern und Wäldern

Aber das ist nicht das einzige Zeltlager: Bei Tankstellen in Evzonoi an der Grenze und an der Nationalstraße bei Polykastro warten insgesamt weitere 2900 Illegale. Und Bauern berichten davon, dass vereinzelte Familien auch mitten in den Feldern oder Wäldern Quartier genommen haben. Sie alle misstrauen den neu eröffneten Lagern um Thessaloniki oder suchen immer noch nach Möglichkeiten, illegal die Grenze nach Mazedonien zu passieren. Die Chancen sind gering; alle nördlichen Nachbarn von Griechenland haben ihre Grenzen dicht gemacht: Albanien, Mazedonien und Bulgarien. Neben den informellen Lagern beherbergen die beiden stark überfüllten Grenzgemeinden noch zwei offizielle Camps (Cherso, Nea Kavala) mit insgesamt 8000 Menschen.

Innerhalb der nächsten ein bis zwei Wochen sollen so viele Lagerbetten zur Verfügung stehen, dass theoretisch jeder der rund 52.600 Flüchtlinge einen Platz findet. Die Plätze werden auch noch einige Zeit gebraucht werden: Die Asylanträge in Griechenland sind 2016 rasant gestiegen. Ende April lagen sie bei 9700 Anträgen – das sind fast genau so viele wie im ganzen Jahr 2015. Die Rückführungen in die Türkei sind nach wie vor praktisch ausgesetzt, und das Umverteilungsprogramm in Richtung Europa hinkt den Erwartungen immer noch hinterher: Mit Stichtag 22. Mai hatten gerade einmal 973 Menschen das Land in Richtung EU-Staaten verlassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2016)

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