„Der Jihadismus ist nicht die RAF“

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FRANCE-SWITZERLAND-ISLAM(c) APA/AFP/MEHDI FEDOUACH (MEHDI FEDOUACH)
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Frankreichs führender Islamismus-Experte Gilles Kepel erzählt vom Halal-Markt als Schatztruhe der Islamisten, einem visionären Manifest und warum Tariq Ramadan „als einziger Schweizer“ Franzose werden will: für die Wahlen 2022.

Die Presse: Am 10. Juni findet das Eröffnungsspiel der Fußball-EM im Stade de France statt, einem Schauplatz der Selbstmordanschläge vom November 2015. Der IS hat französische Islamisten zu Anschlägen während des Ramadans aufgerufen. Gelingt es ihnen, Unsicherheit zu säen?

Gilles Kepel: Nein, und man kann sagen, dass auch die Attentate vom 13. November 2015 gescheitert sind. Die Anschläge vom Jänner, unter anderem auf „Charlie Hebdo“, hatten noch spezielle Zielgruppen im Visier, angebliche Islamfeinde, Juden, aber auch „abtrünnige“ Muslime – als solche gelten den Islamisten ja auch Polizisten wie Ahmed Merabet, die dem französischen Staat dienen. Im November hingegen haben die Terroristen zuerst das Stade de France im Pariser Vorort Saint-Denis angegriffen, wo besonders viele Migranten wohnen.

Ein Zeichen des Dilettantismus?

Das auch. Ich habe mit muslimischen Häftlingen im Gefängnis gesprochen, sie haben mir nach dem Attentat gesagt: „Das sind ja Verrückte! Sie töten unsere Freunde, Verwandten!“ Es erinnert an Algerien Ende der Achtzigerjahre, als die Islamisten durch ihre extreme Gewalt jeden Rückhalt verloren haben.

Eben bei diesen Häftlingen kam aber auch gleich die Theorie in Umlauf, der israelische Geheimdienst habe die Anschläge ausgeheckt, erzählen Sie in Ihrem neuen Buch. Gegen solche Selbstimmunisierung ist schwer anzukommen . . .

Ja, Verschwörungstheorien blühen bei einem Teil der Muslime wie bei der extremen Rechten. Schaut man sich Videos der Identitären und der Jihadisten an, sieht man die Ähnlichkeit der Mechanismen.

2005 hat ein Syrer namens al-Suri ein Manifest veröffentlicht, in dem er eine neue Art des Jihadismus beschrieben hat, die auf die jüngsten Ereignisse zutrifft: Anschläge in Europa, dem „weichen Bauch“ des Westens, durch dort lebende Muslime sollten Europa spalten und letztlich einen Bürgerkrieg entfachen. Sie messen dem Text viel Bedeutung bei, glauben Sie, dass er viel gelesen wurde? Er hat 1600 Seiten . . .

Wenige haben ihn wohl gelesen, die meisten nicht einmal von ihm gehört. Aber auch die wenigsten Kommunisten haben seinerzeit „Das Kapital“ gelesen. Der Text ist wichtig, weil er sehr strukturiert ist, mit erstaunlichen Parallelen zu dem, was dann passiert ist. Bezeichnenderweise wurde er Anfang 2005 ins Netz gestellt, unmittelbar bevor YouTube.com online ging, das für die Jihadisten so wichtig wurde.

Der Autor Michel Houellebecq wurde bei der Arbeit am Roman „Unterwerfung“ auch von Ihren Texten inspiriert, wie er selbst bekannte. Im Roman gehen der Wahl eines Muslimbruders zum Staatschef im Jahr 2022 bewusst geschürte bürgerkriegsähnliche Zustände voraus . . .

Amüsant ist, dass Houellebecq diesem Präsidenten viele Züge von Tariq Ramadan gegeben hat! (Schweizer Islamwissenschaftler und Publizist mit großem Einfluss auf europäische Muslime, Enkel des Muslimbrüder-Gründers Hassan al-Banna, Anm. d. Red.)Im Februar hat Ramadan angekündigt, dass er um die französische Staatsbürgerschaft ansuchen wird. Er ist wohl der einzige Schweizer, der Franzose werden will – und sicher nicht, weil er unseren Käse liebt. Warum dann? Auch wenn er derzeit keine Chance hat, es zu werden – Ramadan will 2022 für die Präsidentschaft kandidieren.

Ihr Kollege Olivier Roy, mit dem Sie einen heftigen Streit hatten, sieht die Gefahr nicht im politischen Islam, er sieht im Jihadismus nur eine „Islamisierung der Radikalität“. Was erbost Sie so daran?

Roy meint, der Jihadismus und die Rote Armee Fraktion seien im Prinzip dasselbe Phänomen. Das ist bequem, man braucht nicht genau hinzusehen. Man muss aber die Wirkung des Salafismus verstehen, den kulturellen Bruch, auf den er abzielt, oder auch die Beziehung zu Saudiarabien, das derzeit von den niedrigen Ölpreisen sehr gefährdet ist . . .

Frankreichs Salafisten ringen mit Muslimbrüdern um die Vorherrschaft auf dem Halal-Markt. Das führte schon dazu, dass die so rigiden Salafisten erstaunlich lockere Halal-Vorschriften befürworteten, wenn die Muslimbrüder den Markt beherrschten . . . Wird die islamische Religion als lukratives Geschäft unterschätzt?

Der Halal-Markt ist tatsächlich eine Schatztruhe. Er betrifft ja nicht nur den Fleischkonsum, sondern auch andere Lebensbereiche wie das Heiraten. Natürlich kann man theoretisch halal leben, so wie man bio lebt, aber es ist eine Tatsache, dass dieser Markt sich genau parallel mit dem Aufstieg des Salafismus ab dem Ende der 1990er-Jahre entwickelt hat. So gewinnen die Islamisten, die hauptsächlich von Sozialleistungen leben, an den arbeitenden Muslimen.

Warum funktioniert das Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen seit Jahren?

Einfach, weil die Eltern keine Wahl haben. Sie müssen sich zwischen Schulbildung und Kopftuch entscheiden. Und sie wollen ja doch, dass ihre Mädchen Bildung erhalten. Jetzt wollen die Salafisten Privatschulen einrichten, zum Teil mit Geld aus dem Halal-Geschäft, zum Teil mit Geld aus den Golfstaaten, aber diese Staaten geben keines mehr.

Auch in Österreich gibt es eine salafistische Szene, salafistisch kontrollierte Kindergärten wurden mangels Kontrolle sogar staatlich gefördert. Wie stark ist der Salafismus gegenwärtig in Frankreich?

Er hat vor allem bei der Jugend einen großen Platz eingenommen. Diese Art von Religiosität läuft besonders über Facebook und Twitter, das erlaubt es, die alte Generation beiseitezulassen. Die meisten sind in Frankreich geborene Muslime, die sich anders als ihre Eltern und Großeltern nicht mehr integrieren wollen, sondern Frankreich hassen.

ZUR PERSON




Gilles Kepel
ist am 7. Juni als Diskutant bei den Wiener Festwochen zu Gast. Der studierte Arabist hat als Professor an der Elite-Uni Sciences Po den Lehrstuhl für den Vorderen Orient und den Mittelmeerraum inne. Er gilt als einer der besten Kenner des politischen Islam und des radikalen Islamismus und hat viel in den französischen Banlieues geforscht. Das jüngste seiner vielen Bücher ist „Terreur dans l'Hexagone“ (2015), in dem er die Attentate von 2015 in einen großen Kontext stellt und eine Geschichte jahrzehntelanger politischer Inaktivität, sozialen Abdriftens und religiöser Radikalisierung erzählt. (7. Juni, 21 Uhr: „Rechtsruck in Europa?“ Diskussion im Burgtheater mit Gilles Kepel und Chantal Mouffe). [ Hélie Gallimard ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2016)

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