Kurz: Rettung aus Seenot ist kein Ticket nach Europa

Außenminister Sebastian Kurz
Außenminister Sebastian KurzClemens Fabry
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Außenminister Sebastian Kurz setzt auf Abschreckung in der Flüchtlingskrise. Er will Bootsflüchtlinge nach dem Vorbild Australiens rigoros im Mittelmeer abfangen, sofort zurückschicken oder auf Inseln wie Lesbos internieren.

Österreichs Außenminister Sebastian Kurz plädiert im Interview mit der "Presse am Sonntag" für einen härteren Kurs in der europäischen Flüchtlingspolitik. Teile der Genfer Flüchtlingskonvention hält Kurz offenbar für unzeitgemäß. Am Vorstoß der EU-Kommission, jene Mitgliedstaaten, die keine Flüchtlinge aufnehmen, mit Strafzahlungen zu belegen, übt der Außenminister heftige Kritik: „Wenn wir die EU zerstören wollen, dann ist das ein sinnvoller Weg“. 

Das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei könnte platzen. Was dann?

Sebastian Kurz: Die Türkei kann die Kooperation jederzeit aufkündigen. Wenn wir uns auf die Türkei verlassen, begeben wir uns in eine gefährliche Abhängigkeit. Plan A muss ein starkes Europa sein, das imstande ist, seine Grenzen selbst zu schützen und selbst zu entscheiden, wer nach Europa kommen kann und wer nicht. Diese Entscheidung darf weder an die Türkei noch an Schlepper delegiert werden.

Den Wunsch, dass Europa seine Grenzen selbst schützt, äußern diverse Politiker schon länger, aber offenbar ist das nicht so einfach im Mittelmeer.

Das sehe ich anders. Gerade Seegrenzen wurden oft genützt, um Zuwanderung zu steuern. Es ist ja kein Zufall, dass Einwanderer in die USA zuerst auf Ellis Island vor New York ankamen. Und auf der Insel entschieden die US-Behörden, wer wann aufs Festland weiter durfte. Ein solches Inselmodell kann auch der Weg für Europa sein.

Sie wollen Flüchtlinge davon abhalten, europäisches Festland zu betreten?

Ich will die illegalen Migrationsrouten nach Europa stoppen.

Was wäre das europäische Ellis Island? Lesbos, Lampedusa?

Wer auf einer Insel wie Lesbos bleiben muss und keine Chance auf Asyl hat, wird eher bereit sein, freiwillig zurückzukehren, als jemand, der schon eine Wohnung in Wien oder Berlin bezogen hat. Man sollte sich anschauen, welche Staaten ähnliche Herausforderungen gemeistert haben. Die EU sollte sich Teile des australischen Modells als Vorbild nehmen.

Was könnte Europa von Australien lernen?

In Australien kamen zwischen 2012 und 2013 insgesamt fast 40.000 Bootsflüchtlinge an. Mehr als 1000 Menschen ertranken. Mittlerweile hat es Australien geschafft, dass keine illegalen Migranten mehr kommen und auch niemand mehr ertrinkt. Warum? Die australische Marine startete eine Grenzschutzoperation, fing Flüchtlingsboote vor der Küste ab, brachte die Menschen zurück in ihre Ursprungsländer oder in Zentren nach Nauru und Papua-Neuguinea.

Das Modell ist sehr umstritten. Immer noch sind hunderte Bootsflüchtlinge in Nauru oder Papua-Neuguinea interniert, ohne in Australien Asyl beantragen zu können.

Das australische Modell ist natürlich nicht eins zu eins kopierbar, aber die Grundprinzipien sind auch für Europa anwendbar. Unser System führt derzeit dazu, dass tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil sie sich Hoffnungen machen und auf diese gefährliche Reise begeben.

Welche australischen Prinzipien halten Sie für nachahmenswert?

Die EU sollte klar festlegen: Wer illegal versucht, nach Europa durchzukommen, soll seinen Anspruch auf Asyl in Europa verwirken. Zweitens müssen wir sicherstellen, dass die Rettung aus Seenot nicht mit einem Ticket nach Mitteleuropa verbunden ist. Drittens müssen wir bedeutend mehr Hilfe vor Ort leisten und gleichzeitig die freiwillige Aufnahme der Ärmsten der Armen durch Resettlement-Programme forcieren. So können wir die Einwanderung auf ein bewältigbares Maß begrenzen und diese Menschen auch integrieren. Jeder, der Australien vorwirft, nicht solidarisch zu sein, lügt. Denn Australien nimmt freiwillig zehntausende Menschen auf.

Sie haben gesagt, dass jemand, der versucht, illegal nach Europa zu kommen, sein Asylrecht verwirken sollte. Das widerspricht der Genfer Flüchtlingskonvention (Art. 31).

Nein, weil wir es hier mit Flüchtlingsströmen aus sicheren Drittländern zu tun haben, wo bereits keine Verfolgung mehr droht. Wenngleich wir auch aussprechen müssen, dass Regelungen in dieser Konvention aus einer ganz anderen Zeit kommen. Wir haben es heute mit massiven Migrationsbewegungen zu tun. Wenn Europa damit zurechtkommen will, muss es ein ordentliches, faires und solidarisches System schaffen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin dafür, dass wir weiterhin Menschen in Österreich oder Europa aufnehmen.

Wo kann man bei Ihrem Modell einen Asylantrag stellen, um nach Europa zu kommen?

Bei Zentren des UN-Flüchtlingshilfswerks, die es jetzt schon in den Flüchtlingslagern der Region gibt. Wir haben ja schon Menschen in Resettlement-Programmen direkt aus Syrien nach Österreich geholt: Frauen, Verwundete, Kranke, Schwache, Schwangere. Australien, Kanada und Großbritannien holen tausende Flüchtlinge direkt aus Kriegsgebieten. Tun wir bitte nicht so, als wäre das eine Fiktion. Resettlement ist Realität. Die Frage ist: Macht Europa so weiter, dass nur ein Bruchteil der Menschen über Resettlement-Programme kommt und in 99 Prozent der Fälle die Schlepper entscheiden?

Konkret: Was soll mit Menschen passieren, die aus dem Mittelmeer gefischt werden?

Sie müssen im Idealfall sofort in ihr Herkunftsland zurückgebracht werden. Im Fall von Libyen ist es möglich, mit der entstehenden Regierung zu vereinbaren, Schlepper schon vor der libyschen Küste an der Überfahrt nach Europa zu hindern. Wenn diese Kooperation nicht möglich ist, dann müssen die Menschen in einem Asylzentrum untergebracht und versorgt werden, idealerweise auf einer Insel. Von dort muss dann ihre Rückkehr organisiert und finanziell unterstützt werden.

Und wohin wollen Sie syrische Flüchtlinge bringen, die in der Ägäis aufgegriffen werden? Da brauchen Sie dann doch die Türkei.

Solange es keine Schutzzone in Syrien gibt, bleibt die Türkei der erste Ansprechpartner. Aber seit Schließung der Westbalkanroute haben sich deutlich weniger auf den Weg gemacht.

Das ist wohl auch auf das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zurückzuführen?

Das Abkommen mit der Türkei war sicherlich auch hilfreich. Doch vorher haben wir die Westbalkanroute geschlossen. Und seither hat sich der Flüchtlingsstrom deutlich verringert.

Glauben Sie, dass der Damm in Mazedonien halten könnte, wenn die Türkei tatsächlich die Schleusen für Flüchtlinge öffnen würde?

Das kommt auf die Signale an, die wir in Europa setzen. Wenn nach Demonstrationen an der mazedonischen Grenze der Eindruck entsteht, dass die Migranten irgendwann doch nach Deutschland weitergewunken werden, dann wird die Grenze in Mazedonien sicher nicht halten.

Entstehen gerade neue Ausweichrouten für Flüchtlinge? In Bulgarien wurden seit Beginn des Jahres angeblich mehr als 4500 illegale Migranten aufgegriffen.

Bulgarien ist sehr kooperativ und bemüht, die EU-Außengrenze bestmöglich zu schützen. Es liegt auf der Hand, dass eine der Routen auch über Bulgarien führt, wenn man sich die Landkarte anschaut.

Könnte das Bulgarien-Loch größer werden?

Wenn wir Bulgarien damit allein lassen, die EU-Außengrenze zu sichern, dann kann hier schnell eine gewisse Überforderung entstehen. Die EU braucht an ihren Außengrenzen dringend ein eigenes Schutzkorps, das sich aus Sicherheitskräften aus allen 28 Mitgliedstaaten zusammensetzt.

Warum gibt es dieses Korps noch nicht?

Weil die Politik des vergangenen Jahres ein gegenteiliges Ziel hatte: nämlich Menschen bestmöglich nach Deutschlandweiterzutransportieren. Die Fähren von Lesbos nach Thessaloniki, dem nächst gelegenen Hafen zur mazedonischen Grenze, sind sogar mit EU-Geldern gefördert, die Busse und Züge, mit denen die Migranten nach Mitteleuropa fuhren, von europäischen Steuerzahlern finanziert worden.

Das war vielleicht Folge von Passivität und Überforderung der EU. Aber war es wirklich Ziel, möglichst viele Flüchtlinge zu holen?

Die Sitzungen haben dieses Ergebnis gebracht. Und die Aussagen über Willkommenskultur haben natürlich dazu geführt, dass die Westbalkanstaaten nicht gerade den Eindruck hatten, Menschen daran hindern zu müssen, nach Deutschland weiterzureisen.

Ist die Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Mitgliedsländer gemäß einer Quotenregelung für Sie endgültig gescheitert?

Wenn es uns gelingt, unsere Grenzen zu sichern und nur noch mittels Resettlement-Programmen Flüchtlinge direkt nach Europa zu holen, dann orte ich bei so gut wie allen EU-Mitgliedern, auch in Osteuropa, Bereitschaft, Menschen aufzunehmen. Es braucht nur ein geordnetes System.

Was halten Sie vom Vorstoß der EU-Kommission, Strafzahlungen über Mitgliedstaaten zu verhängen, die der Aufteilungsquote für Flüchtlinge nicht nachkommen?

Wenn wir die Europäische Union zerschlagen und zerstören wollen, dann ist das ein sinnvoller Weg.

Sehen Sie denn die Gefahr, dass Europa auseinanderfällt?

Ich sehe die Gefahr, dass einige wenige mitteleuropäische Politiker glauben, der Mehrheit in Europa Vorschriften machen zu können, weil sie sich moralisch überlegen fühlen. Ich würde mir auch von manchen eine andere Denke in der Flüchtlingsfrage wünschen. Aber man muss Verständnis dafür haben, dass es für viele Staaten nicht nur in Osteuropa angesichts der Stimmungslage ihrer Bevölkerung eine massive Herausforderung wäre, unzählige Flüchtlinge aufzunehmen.

Wäre Europa angezählt, wenn die Briten am 23. Juni für einen EU-Austritt stimmen?

Ich hoffe sehr, dass Großbritannien bleibt. Ein Brexit wäre für die EU dramatisch. Nicht nur, weil die EU ohne Großbritannien wesentlich schwächer wäre, sondern vor allem auch deshalb, weil Großbritannien uns ideologisch in den Debatten in Brüssel sehr guttut. Großbritannien ist eines der wenigen Länder, das stetig dafür kämpft, dass Europa wettbewerbsfähig bleibt. Wenn wir Großbritannien verlieren und der Einfluss anderer Staaten wächst, die eher von der Sozialunion träumen, dann hätte dies massiv negative Auswirkungen auf die EU.

(Print-Ausgabe, 05.06.2016)

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