Der stolpernde Vorzugsschüler

Schulsystem. Finnland gilt spätestens seit dem Pisa-Test im Jahr 2000 als das gelobte Bildungsland. Eine Suche nach dem Schlüssel des Erfolgs.

Helsinki. An der Wand hängt eine Gitarre neben der anderen, die Mikrofone stehen platzsparend an der Seite, davor sitzt das Orchester und spielt den Tango: Die Geiger stimmen das Stück an, die Saxofonisten warten auf ihren Einsatz, und der Schlagzeuger macht Pause. Das ist Schulunterricht auf finnisch.

Hier probt das Schulorchester der Viikin-normaalikoulu-Schule in Helsinki – freilich mit den von der Schule zur Verfügung gestellten Instrumenten. Einen Stock tiefer steht Mathematik auf dem Stundenplan. Die Tische der Schüler stehen zwischen einer Küchenzeile, einem vollen Bücherregal und einer Couch voller Stofftiere. Die Lehrerin sitzt vor ihrem Laptop und projiziert die Rechenbeispiele mit zwei Beamern an das Whiteboard.

Die Ausstattung so manch finnischer Schule lässt internationale Delegationen, die seit Jahren durch die Schulen des Landes pilgern, um den Schlüssel des finnischen Erfolgs zu finden, vor Neid erblassen. Eine Antwort darauf, weshalb Finnland spätestens seit dem Pisa-Test im Jahr 2000 der europäische Musterschüler ist, können Raumausstattung und Investitionen aber höchstens bedingt geben. Von der Bildungsdirektion der OECD bis hin zu österreichischen Gesamtschulbefürwortern wird gern Finnlands gemeinsame Schule, in der Jugendliche erst im Alter von 16 Jahren getrennt werden, als Mutter des Triumphs genannt.

Im Land selbst schreibt man den Erfolg neben der Gesamtschule vor allem dem Bildungshunger zu. Dieser hängt eng mit der Geschichte des Staates zusammen. Als Finnland 1917 von Russland unabhängig wurde, entstand ein Nationalbewusstsein, das stark durch den Bildungsgedanken getragen war. Außerdem setzte die Industrialisierung im lange landwirtschaftlich geprägten Finnland spät ein. Bildung war entscheidend, um aufzuholen. Heute sind Bibliotheken wichtiger Teil des Lebens und gut gefüllt. Finnen lesen gern – auch Kinder. Das müssen sie auch. Denn ausländische Filme werden nicht synchronisiert, sondern mit Untertiteln gezeigt.

„Schwieriger, Lehrer zu werden als Arzt“

Auch das außerordentlich hohe Ansehen der Lehrer geht auf diese Zeit der Unabhängigkeitsbewegung zurück – und hat anders als in anderen Länder seither nicht an Glanz verloren. Der Lehrerjob ist begehrt. Und das kann nicht an der Bezahlung liegen. Diese ist verglichen mit anderen Akademikerjobs auch hierzulande niedrig. „In Finnland ist es schwieriger, Lehrer zu werden als Arzt“, sagt Karin Hannukainen von der Universität Helsinki. 2000 Bewerber gibt es dort für die Lehramtsstudien jährlich. Es bewerben sich die besten Schulabgänger. Weniger als zehn Prozent werden tatsächlich genommen.

Durch das hohe Prestige und die gute fachliche Ausbildung bleiben Pädagogen oft auch mit der Wissenschaft verzahnt oder sitzen in Entwicklungsteams der Behörden. Sie gestalten mit. Ihnen wird so sehr vertraut, dass es in Finnland kaum zentrale Bildungstests gibt. „Wir glauben nicht an Testungen“, sagt Pasi Silander, der Entwicklungsleiter am Schulamt in Helsinki.

Doch auch der Vorzeigeschüler strauchelt. Finnland war bei Pisa 2012 beim Lesen und in den Naturwissenschaften immer noch Europameister, in Mathematik reichte es europaweit aber nur noch für den vierten Platz. Im Vergleich zu Pisa 2003 haben die Schüler 25Punkte eingebüßt. Das entspricht dem Lernrückstand eines ganzen Jahres. Das ruft die Kritiker auf den Plan. Gabriel Heller Sahlgren veröffentliche 2015 eine Studie mit dem Titel „Die wahre Geschichte einer Bildungssupermacht“. Seiner Meinung nach gingen die Pisa-Erfolge aus den Nullerjahren auf das alte finnische Schulsystem, in dem die Lehrer weniger Autonomie hatten und der Unterricht traditioneller und autoritärer gewesen ist, zurück. Schwächeln würden jene finnischen Schüler, die das neue, lockere, offene System genossen haben, so seine These.

Homogene Klassen als Vorteil

Schon zuvor wurde der finnische Erfolg kritisch beäugt. In Finnland gebe es verglichen mit anderen Ländern weniger Einwanderung und auch eine kleinere soziale Kluft zwischen Arm und Reich als in anderen Ländern. Das führe zu homogeneren Klassen, die das Unterrichten für die Lehrer einfacher machen würden als in Einwanderungsländern mit zahlreichen Ballungsräumen.

Das beginnt sich in Finnland nun zunehmenden zu ändern. Im Schulamt in Helsinki wird schon an den nächsten Reformen gebastelt. Diese könnten mitunter das Aus für die klassischen Schulfächer bringen.

AUF EINEN BLICK

Finnland gilt seit der Pisa-Studie, bei der alle drei Jahre die Leistung der 15- bis 16-Jährigen überprüft wird, im Jahr 2000 als europäisches Bildungswunderland. Im Lesen war Finnland damals OECD-weit auf Platz eins, in Naturwissenschaften und Mathematik zumindest das beste europäische Land. Beim bisher letzten Pisa-Test 2012 war Finnland immer noch gut, verlor aber Punkte. In Mathematik reichte es nicht mehr für den Europameistertitel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2016)

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