Der Soldat des "Geliebten Führers"

Der ehemalige Unteroffizier der nordkoreanischen Volksarmee in Wien: Heute setzt sich Kim Chol Joo-il gegen die Verbrechen des Kim-Regimes ein.
Der ehemalige Unteroffizier der nordkoreanischen Volksarmee in Wien: Heute setzt sich Kim Chol Joo-il gegen die Verbrechen des Kim-Regimes ein.Stanislav Jenis
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Kim Joo-il diente als Unteroffizier in der nordkoreanischen Volksarmee. Nach jahrelangem Hunger und Terror floh er aus dem stalinistischen Land, heute wohnt er in England.

Erste Zweifel am „Geliebten Führer“ kommen Kim Chol Joo-il wegen eines bunten Halstuches und eines Notizblocks. Es sind die frühen 1990er-Jahre, im isolierten, stalinistischen Nordkorea müssen die Menschen Gras essen, um nicht zu verhungern. Kim ist 17 Jahre alt. Die Buben in seiner Klasse haben ihm den Block gebastelt, die Mädchen das sorgfältig bestickte Tuch genäht. Denn der Jugendliche wird zum Militärdienst eingezogen, die Talismane sollen ihm über das Heimweh hinweghelfen. Er freut sich auf die Zeit in der Volksarmee: Als Held unter Helden will auch er dem „Geliebten Führer“, Diktator Kim Jong-il, helfen, seine „glorreiche Heimat“ gegen den „imperialistischen Feind“ zu verteidigen.

Doch gleich in den ersten Tagen bei der Armee verschwinden die kostbaren Souvenirs – gemeinsam mit der Uniform. Als dies Kim schüchtern meldet, wird er geschlagen. „Stell keine Fragen“, raten ihm Kameraden aus der Heimatstadt. Kim schweigt. Insgeheim beginnt der junge Mann aber, seine Schulerziehung zu hinterfragen: Ist vielleicht die Volksarmee, das Vorbild seiner Kindheit und Jugend, in Wirklichkeit nur eine Horde verzweifelter Diebe?


Nächtliche Raubzüge. Heute noch erinnert sich der 43-Jährige, der inzwischen in England lebt, genau an den Moment, als sein Weltbild zusammenbrach: „Damals wurde mir bewusst, dass die Realität das Gegenteil von dem ist, was uns unsere Lehrer eingebläut hatten.“ Kim hatte ebenso wie seine Mitschüler wirklich daran geglaubt, „dass wir ein ganz besonderes Volk sind. Dass wir uns gegen den grausamen Neid der Imperialisten verteidigen müssen.“ Der sonst so gefasste Mann hebt kurz die Stimme: „Wir verehrten Kim Jong-il in der Schule wie einen Gott. Ein Leben lang werden die Nordkoreaner belogen.“

Als junger Soldat wird Kim schnell klar, dass Gewalt, Hunger, Diebstahl und Betrug zum ganz normalen Alltag in der Armee gehören. Er erinnert sich: „Eine meiner ersten Aufgaben war es, für die Truppe das Essen vorzubereiten. Man gab mir etwas Reis und sagte: Bereite ein Gericht mit sieben Beilagen vor. Als ich sie fragte: Wie soll ich das denn anstellen, es fehlen alle Zutaten, wurde ich verprügelt.“ Doch wieder kommen ihm ältere Kameraden aus der Heimatstadt zu Hilfe. Sie flüstern ihm zu, er solle sich keine Sorgen machen. Nachts wird Kim dann geweckt. Seine Vorgesetzten geben ihm einen großen Sack. Gemeinsam mit anderen Soldaten schleicht er sich an einen naheliegenden Bauernhof heran: Ein Soldat stopft Kohl in einen Sack, ein anderer Kartoffeln. „Jede Nacht ging das so. Wir überlebten, weil wir das Volk ausplünderten. Manchmal erbeuteten wir ein Schwein. Das bekamen die Offiziere.“

Die nächtlichen Raubzüge genügen bei Weitem nicht, um die Truppe zu ernähren. Jeder dritte Soldat leidet an den Folgen chronischer Unterernährung. Frauen und Männer verlieren ihre Haare, viele können sich nicht auf den Beinen halten. „Wir hungerten 24 Stunden am Tag.“ Doch Hunger existiert im Realsozialismus offiziell nicht. Wenn ein Soldat verhungert, wird als Todesursache „Infektionskrankheit“ angegeben.

Geplagt werden die Militärs auch vom Dauerterror und dem gegenseitigen Misstrauen. Prügel und Folter gehören zum Alltag, ebenso wie die omnipräsente Überwachung. „In Nordkorea gibt es ein Sprichwort: Treffen sich drei Menschen, ist mindestens einer von ihnen ein Spion“, schildert Kim. Und so sind die Soldaten ständig auf der Hut – beim abendlichen Bier, beim Gespräch mit dem „Freund“. Einmal pro Woche muss jeder Einzelne sich selbst und einen Kameraden öffentlich kritisieren.

Schweigen ist ein indirektes Schuldbekenntnis – das mit „Umerziehung“ im Gefängnis, im Lager oder bei „hoffnungslosen Fällen“ mit Exekution bestraft wird. Kim kann heute noch das bedrohliche Gefühl, nie allein zu sein, nicht vergessen: „Einmal musste ich das Zimmer eines Offiziers putzen. Es war bestimmt niemand im Raum. Ein Buch lag herum, ich blätterte kurz darin.“ Als er das Zimmer verließ, stand ein Sicherheitspolizist vor ihm: „Du hast ein Buch gelesen, ohne das zu melden“, blaffte der ihn an. Kim wird bestraft. „Woher die wussten, dass ich ins Buch geschaut habe, weiß ich immer noch nicht.“

Die Jahre vergehen, Kim macht Karriere. Er wird Unteroffizier einer Einheit an der Grenze zu Südkorea, eigentlich ein privilegierter Posten. Trotzdem fehlt es seinen Soldaten an allem, an Lebensmitteln, Medikamenten, Hygieneartikeln. Der Hass auf das Regime wächst. Kim ist inzwischen davon überzeugt, dass die Welt außerhalb Nordkoreas die Bessere ist. Immer wieder spielt er in seiner Fantasie die Flucht durch.

Im August 2005 wird Kim wieder einmal beauftragt, Soldaten zu suchen, die desertiert haben. „Desertion kommt häufig vor, auch heute. Fast immer kehren die Soldaten zu ihren Familien heim, in der Hoffnung, dort eine warme Mahlzeit zu bekommen“, sagt er. Diesmal stammten die Soldaten aus der Stadt Hoeryong, an der Grenze zu China. Kim erwischt sie tatsächlich dort. Statt die Flüchtlinge zurück in den Süden zu begleiten, setzt er sie in einen Zug. Er selbst reist weiter in den Norden, zu einem abgelegenen Ort am Ufer des Grenzflusses Tumen. Die Tage sind schwül und heiß. Am 26. August ist die Nachtluft besonders stickig, Wolken verdecken den Mond. Kim wagt den großen Schritt: Er springt ins Wasser. Die Wachen sehen ihn nicht, vermutlich dösen sie in der Hitze. Kim schwimmt. Er schwimmt nach China, in die Freiheit.


Elite hat Angst. Dort überraschen ihn die vielen elektrischen Lichter, eine solche strahlende Helligkeit bei Nacht hat der junge Mann noch nie gesehen. Aber er will weiter. Nach einer langen Reise, die ihn durch mehrere asiatische Länder führt, gelangt er nach Thailand und – dank der Hilfe des UN-Flüchtlingshilfswerks – schließlich nach England. Kim beschließt, von hier aus für ein freies Nordkorea zu kämpfen. Er nimmt Kontakt zu nordkoreanischen Dissidenten auf: Von den rund 1200 nordkoreanischen Flüchtlingen in der EU leben etwa 700 in Großbritannien. Er gründet eine Zeitung, in der er die Verbrechen des Kim-Regimes dokumentiert und eine Organisation, die sich für Menschenrechte und Demokratie in Nordkorea einsetzt.

Kim verfolgt die Entwicklungen in seiner Heimat genau. Den Menschen gehe es schlechter als je zuvor, weiß er von seinen Informanten. Wirtschaftlich habe sich trotz großspurig angekündigter Reformen wenig geändert, die Menschen hungerten auch unter Diktator Kim Jong-un. Doch der junge Machthaber gehe noch brutaler als sein Vater und Großvater vor. Wegen der ständigen „Säuberungen“ des Machtapparates fühle sich jetzt auch die Elite nicht mehr sicher. Da jegliche Opposition im Keim erstickt werde, gebe es weder innerhalb Partei noch der Armee eine Gegenbewegung zur Kim-Tyrannei. Allerdings würden immer mehr Nordkoreaner das Land verlassen: „Früher sind nur Einzelne geflohen. Heute versuchen ganze Gruppen, über die Grenze zu kommen“, weiß Kim. Flucht sei die einzige Form von Widerstand gegen das Regime, die derzeit möglich sei: „Wenn aber immer mehr Nordkoreaner die Welt sehen, dann steigt von außen der Druck, die Dinge in Nordkorea zu verändern.“ Vor allem unter den Jungen wachse der Frust, hört Kim aus der Heimat. Diese Generation muss im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern gänzlich auf die – wenn auch prekäre – Staatshilfe verzichten und selbst Geld verdienen. Diese rudimentäre „Marktöffnung“ treibe viele an, wegzugehen. „Sie realisieren, dass sie in diesem System keine Chance haben.“

Hinter Kims Engagement stecken auch persönliche Gründe. „Ich will, dass meine Flucht einen Sinn hatte. Ich will helfen, Nordkorea zu verändern.“ Kim denkt dabei an seine eigene Familie. Es fällt ihm nicht leicht, darüber zu reden. Seinen Vater hat er seit der Flucht nur einmal gehört: 2007 telefonierten sie miteinander. Die Familie zahlte einen hohen Preis: Ein Bruder, Ex-Offizier, wurde zu Zwangsarbeit in einer Fabrik verurteilt. Seine Verwandten stehen unter Dauer-Beobachtung und müssen langwierige Befragungen über sich ergehen lassen. Kim hat seit 2007 keine Nachricht von ihnen.

Der Dissident hat inzwischen in England eine Familie gegründet: Er heiratete, hat zwei kleine Töchter. Kim glaubt fest an ein baldiges Erwachen aus dem Alptraum der stalinistischen Diktatur. Er hofft, dass dies noch zu Lebzeiten seines Vaters geschehen wird. „Ich wünsche mir, dass er seine Enkelinnen noch umarmen kann.“

Fakten

Dynastie. Seit der Gründung der Demokratischen Volksrepublik 1948 wird das Land von der Kim-Dynastie regiert: Auf Staatsgründer und Präsident Kim Il-sung folgte dessen Sohn Kim Jong-il und 2011 Enkel Kim Jong-un an die Staats- und Armeespitze. Jegliche Form von Opposition wird mit Arbeitslager, KZ oder Tod bestraft, die Bevölkerung wird ausgehungert.

Atomprogramm. Seit Mitte April 2012 bezeichnet sich Nordkorea in seiner Verfassung als Nuklearmacht. Bereits im Oktober 2006 führte das Land angeblich einen ersten Atomtest durch. Der letzte fand im Jänner statt, es folgten zahlreiche Raketenabschüsse. Im März verschärfte der UN-Sicherheitsrat Sanktionen.

Volksarmee. In der Volksarmee dienen etwa 1,3 Millionen Soldaten. Männer müssen mindestens zehn Jahre lang den Militärdienst absolvieren, Frauen müssen sich für acht Jahre verpflichten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2016)

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