Der Präsident nimmt neuen Anlauf für Verbauung des symbolträchtigen Gezi-Parks. Die Polizei ging gegen Demonstranten vor, die gegen Islamistenangriff auf Plattenladen protestierten.
Istanbul. Polizisten in Kampfmontur, Demonstranten, Tränengas: Die Szenen, die sich am Wochenende in der Innenstadt der türkischen Metropole Istanbul abspielten, glichen jenen vor fast genau drei Jahren, als die Staatsmacht und die Protestbewegung gegen die Verbauung des Gezi-Parks – einer der wenigen innerstädtischen Grünflächen in Istanbul – einander in derselben Gegend fast täglich schwere Straßenschlachten lieferten. Einige Beobachter meinen, dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan tatsächlich eine Wiederholung der damaligen Auseinandersetzungen provozieren will.
Die Konfrontation am Samstagabend begann, als die Polizei gegen eine Kundgebung einschritt, mit der gegen einen Überfall auf einen Plattenladen im Szeneviertel Cihangir protestiert werden sollte. Rund 20 islamistische Randalierer hatten die Gäste in dem Geschäft verprügelt, in dem das neue Album der britischen Rockband Radiohead per Livestream vorgestellt wurde. Die Besucher des Ladens hätten mitten im islamischen Fastenmonat Ramadan Bier getrunken, brüllten die mit Knüppeln bewaffneten Angreifer.
Erdoğan selbst heizte die Stimmung weiter an. In Reden in Istanbul kündigte er an, das nach den Gezi-Protesten von 2013 gestoppte Projekt der Wiedererrichtung eines osmanischen Kasernengebäudes auf dem Gelände des kleinen Gezi-Parks in Istanbul neu zu beleben. Die Kaserne werde gebaut, und eine Moschee sowie ein Opernhaus dazu, sagte der Präsident.
Spitze gegen säkularen Stil
Den Mitgliedern der Gezi-Protestbewegung warf Erdoğan vor, ihren eigenen – von ihm und seinen Anhängern als verwestlicht, alkohol-freundlich und säkular abgelehnten – Lebensstil anderen Türken aufzwingen zu wollen. Diese Aussage war eine gezielte Provokation durch den Präsidenten, denn viele säkulare Türken empfinden gerade die Politik von Erdoğans islamisch-konservativer Partei AKP als Angriff auf ihren eigenen Lebensstil.
„Wir werden mutig sein“, sagte Erdoğan in Anspielung auf die zu erwartenden neuen Proteste gegen das Kasernenprojekt. Indessen verbreiteten Erdoğan-Anhänger via Twitter offene Todesdrohungen gegen die Gezi-Bewegung. Ein gleichlautender Tweet, der von zahlreichen Gefolgsleuten des Präsidenten kopiert und veröffentlicht wurde, rief türkische Polizisten auf, keine Rücksicht mehr auf Demonstranten zu nehmen: „Sie sollen zuschlagen und sie töten.“
Erdoğans neuer Gezi-Anlauf und das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten in Cihangir verstärken die Spannungen im Land. Erst vor einigen Tagen hatte eine rechtsradikale Gruppe mit Gewalt gegen eine für kommende Woche geplante Homosexuellen-Demo in Istanbul gedroht. Der Istanbuler Gouverneur verbot die Kundgebung darauf – doch die Veranstalter wollen sich nicht abschrecken lassen und trotzdem auf die Straße gehen. Dies wiederum dürfte die Polizei auf den Plan rufen.
Manche vermuten hinter der Eskalation eine politische Taktik Erdoğans. Schon öfter in seiner Karriere hat der heute 62-Jährige die gesellschaftliche Polarisierung vorangetrieben, um seine eigenen Anhänger vor wichtigen Abstimmungen um sich zu scharen. Nun steht wieder eine wichtige Wahl bevor: Mustafa Şentop, AKP-Politiker und Vorsitzender des Verfassungsausschusses im türkischen Parlament, sagte, seine Partei strebe für Ende 2016 oder Anfang 2017 eine Volksabstimmung über die Einführung eines Präsidialsystems an.
Präsidialrepublik als Ziel
Um das Referendum anzusetzen, braucht die AKP im Parlament mindestens 330 der 550 Stimmen; bei der Volksabstimmung selbst reicht dann die einfache Mehrheit von mehr als 50 Prozent der Stimmen, um aus der Türkei eine Präsidialrepublik zu machen. Erdoğan will beim Referendum nicht nur die AKP-Anhänger, sondern auch andere rechtskonservative Wähler für sich gewinnen.
Das Präsidialsystem sei Erdoğans einziges Ziel, hieß es auf der regierungskritischen Facebook-Seite Son Vesayet. Erdoğan wolle Chaos und Unruhe anzetteln, um sich auf diese Weise zusätzliche Stimmen zu sichern. „Istanbul und die Türkei gleichen einem Pulverfass“, kommentierte der Journalist Yavuz Baydar. „Uns stehen schwere Zeiten bevor.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2016)