London will Austritt à la carte – und bekommt Abfuhr aus Brüssel

(c) APA/AFP/JOHN MACDOUGALL (JOHN MACDOUGALL)
  • Drucken

Nach dem Einreichen eines Austrittsgesuchs starten zweijährige Verhandlungen. Der Brexit und seine rechtlichen Konsequenzen.

„Wer den Tisch verlässt, darf nicht mehr an diesem Tisch essen.“ Für Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist die Sache klar: Das Ergebnis des EU-Austrittsreferendums in Großbritannien ist unumkehrbar. Mit der Entscheidung des britischen Volkes, der Union den Rücken zu kehren, betreten die EU-Chefs Neuland – wenngleich der Ablauf in der Theorie klar festgelegt ist. Laut Artikel 50 des Vertrags von Lissabon muss zunächst eine förmliche Mitteilung aus London an den Rat der Staats- und Regierungschefs ergehen, ehe die zweijährigen Verhandlungen für den Austritt ins Rollen kommen.

Vorerst dürften die Briten jedoch auf Zeit spielen. Premier David Cameron tritt beim Tory-Parteitag im Oktober zurück, wie er gestern ankündigte. Den Brief nach Brüssel soll erst sein Nachfolger – aller Logik nach ein Vertreter des Austrittslagers – versenden. Allerdings zeichnet sich bereits ab, dass die Brexit-Befürworter nicht vorhaben, von Artikel 50 des EU-Vertrags überhaupt Gebrauch zu machen. Der frühere Londoner Bürgermeister und Anführer der Brexit-Kampagne, Boris Johnson, sieht „keinen Grund zur Hast“, Brüssel offiziell vom Austrittswunsch zu informieren. Vielmehr wollen seine Anhänger auf informellem Weg versuchen, die Beziehungen zur EU neu zu ordnen.

Prozess nüchtern abwickeln

In Europas Hauptstadt will man von derlei Bestrebungen nichts wissen. Weil die Ansteckungsgefahr für andere Mitgliedstaaten als hoch eingeschätzt wird, soll der in den Verträgen vorgesehene Prozess so schnell und nüchtern wie möglich abgewickelt und den Briten keine weiteren Ausnahmeregeln gewährt werden – wie dies ja während der Mitgliedschaft durchaus Usus war. „Jetzt muss Schluss sein mit dem Rosinenpicken“, forderten auch die Delegationsleiter der österreichischen EU-Abgeordneten bei einer Pressekonferenz in Wien am gestrigen Freitag unisono. Wenngleich die Parlamentarier betonen, dass eine „Bestrafung“ der Briten nicht angebracht sei – leicht dürfte es die EU-Kommission, die die Verhandlungen aller Voraussicht nach führen wird, ihrem Gegenüber aber nicht machen. Zudem rechnet niemand damit, dass die komplizierten Beziehungen des Vereinigten Königreichs mit der Staatengemeinschaft in nur zwei Jahren auf eine neue, für beide Seiten zufriedenstellende Basis gestellt werden könnten. Eine Verlängerung dieser Frist ist grundsätzlich möglich; jedoch nur mittels eines – aus heutiger Sicht höchst unwahrscheinlichen – einstimmigen Beschlusses im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs.

Austritt bis zur EU-Wahl

Im EU-Parlament gibt es keinen Zweifel daran, dass der Austritt spätestens bis zur nächsten Europawahl – also bis zum Frühjahr 2019 – erfolgt sein muss. Britische EU-Vertreter hingegen sollten bereits mit Abgabe des Austrittsgesuchs durch die Regierung ihr Stimmrecht in den Institutionen verlieren, so ÖVP-Delegationsleiter Othmar Karas am Freitag. Vertraglich festgelegt ist das nicht. Derzeit sind in der EU-Kommission etwas mehr als 1000 britische Beamte beschäftigt; in der Bürgervertretung stellt das Vereinigte Königreich 78 Abgeordnete. Auch ist noch völlig offen, ob London die für die zweite Jahreshälfte 2017 vorgesehene Ratspräsidentschaft antreten kann.

Absolute Priorität in den Verhandlungen dürfte für den künftigen britischen Premier aber ohnehin ein ganz anderes Thema haben: die weitere Teilnahme am gemeinsamen Binnenmarkt. Als Vorbild könnte die Schweiz dienen, die das Gemeinschaftsrecht zwar voll anwendet, als Nicht-EU-Mitglied aber nicht mitbestimmen darf. Ausnahmen für die im EU-Binnenmarkt festgelegte Personenfreizügigkeit will Brüssel den Briten jedenfalls nicht gewähren – eine Festlegung, die noch zu Konflikten führen dürfte, hatten EU-Gegner doch während des Wahlkampfs damit geworben, die Einwanderung ins Land nach dem Austritt autonom begrenzen zu wollen.

Wirtschaftlich nicht tätige Kontinentaleuropäer und Briten (z. B. Pensionisten), die in einem anderen EU-Land leben, müssen sich allerdings Sorgen um ihren künftigen Rechtsstatus machen: Für sie gelten die im Binnenmarkt festgelegten Regeln zur Freizügigkeit nicht; Brüssel und London müssten erst ein gesondertes Abkommen zu ihrer Gleichbehandlung und Nicht-Diskriminierung vereinbaren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25. Juni 2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.