Flüchtlinge: Mittelmeerroute "so stark frequentiert wie nie"

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Der Chef der Frontex-Agentur Leggeri befürchtet starken Anstieg der Flüchtlingszahlen über das Mittelmeer - bis zu 300.000 Menschen könnten heuer noch in Italien stranden. Neuer Schlepper-Hotspot sei Ägypten.

Berlin/ Wien. Die lebensgefährliche Überfahrt von Nordafrika nach Italien ist wieder zur Hauptroute für Flüchtlinge geworden, die illegal nach Europa wollen: „Die zentrale Mittelmeerroute wird so stark frequentiert wie noch nie zuvor“, sagte Fabrice Leggeri, Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex den Zeitungen der deutschen Funke-Mediengruppe. Die Zahl der nicht regulären Grenzübertritte zwischen Libyen und Italien übersteige in diesem Jahr die Zahl aller anderen illegalen Grenzüberschreitungen in die EU. Wegen der Abriegelung der Balkanrouten und des EU/Türkei-Deals kämen heuer „dreizehn- bis vierzehnmal mehr Flüchtlinge nach Italien als Migranten aus der Türkei nach Griechenland“. Und Leggeri warnt: Bis zu 300.000 Menschen könnten heuer noch in Italien stranden.

Seit Jahresbeginn sind laut der UN-Organisation IOM 214.681 Menschen über das Mittelmeer illegal nach Europa gelangt, davon 157.918 nach Griechenland und 55.563 nach Italien. Der seit März geltende EU/Türkei-Flüchtlingsdeal hat die Zahl der Ankünfte nach Griechenland schlagartig reduziert – was zur Folge hat, dass Italien seit April wieder das wichtigste Ankunftsland ist.

Von einer Verlagerung der Ägäis-Route könne aber keine Rede sein, betont eine Frontex-Sprecherin auf Nachfrage der „Presse“. Denn bisher würden kaum Menschen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan versuchen, über Nordafrika nach Italien zu gelangen – aus diesen Länder flüchteten im vergangenen Jahr die meisten Menschen nach Griechenland. Die Migranten, die in Italien stranden, kommen vor allem aus Westafrika und dem Horn von Afrika – an erster Stelle aus Eritrea (etwa 6076), Nigeria (5967) und Gambia (3782). Nur ein geringer Teil dieser Menschen hat Anrecht auf Asyl in Europa: „In Eritrea gibt es Verfolgung und eine brutale Diktatur, diese Menschen sind schutzbedürftig“, sagt Leggeri. Die UNO wirft dem Regime in Eritrea vor, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen. Die meisten Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Staaten würden vor allem wegen „wirtschaftlicher Perspektivenlosigkeit“ fliehen, so Leggeri.

Schlepper-Zentrum mitten in der Wüste

Bisher sind die Flüchtlingsströme nach Italien im Vergleich zum Vorjahr konstant – Frontex hat insgesamt eine Erhöhung von lediglich 0,28 Prozent registriert. Doch der Frontex-Chef warnt, dass heuer noch 300.000 Menschen die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer wagen könnten. Diese Zahl leite die Agentur von einem starken Anstieg der Flüchtlingszahlen in der afrikanischen Wüstenstadt Agadez ab, erklärt die Frontex-Sprecherin der „Presse“: Die Stadt im Zentrum des Staats Nigers ist eine der Hauptdrehscheiben für Flüchtende aus Subsahara- und Westafrika. Von hier aus werden viele Afrikaner an die nordafrikanische Mittelmeerküste und später nach Europa geschleust. Laut Frontex wurden allein im letzten Monat etwa 13.000 Flüchtlinge gezählt, die nach Agadez gelangten, um von hier aus weiterzuziehen.

Leggeri hebt indes noch eine weitere „besorgniserregende Entwicklung“ hervor. War bisher Libyen der wichtigste Hafen für die illegale Überfahrt nach Europa, entwickelt sich jetzt Ägypten zum „neuen Hotspot“: Allein heuer sind etwa 1000 Boote nach Italien gestartet. Die Reise sei wegen der größeren Distanz noch gefährlicher als die Überfahrt von Libyen aus. Etwa zehn Tage müssten die Flüchtlinge auf Booten ausharren.

Angesichts der vielen Toten – IOM schätzt, dass heuer 2861 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken sind – pocht Leggeri auf „mehr legale Flüchtlingswege“ aus den Krisenregionen nach Europa. Er nannte „humanitäre Sonderflüge aus Flüchtlingscamps im Libanon, Jordanien oder der Türkei“. Dies habe ebenfalls die EU-Kommission vorgeschlagen. Das Thema Flüchtlinge beschäftigte gestern in Brüssel auch die EU-Staats- und Regierungschefs. So will die EU mit ausgewählten Herkunfts- und Transitländern in Afrika „Migrationspartnerschaften“ schließen: Für Unterstützung bei der Reduktion von Flüchtlingsströmen und Rückführung irregulärer Einwanderer soll es wirtschaftliche Anreize geben. Umstritten sind geheime Pläne, auch mit repressiven Regimes wie in Eritrea zu kooperieren. (basta./ ag.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2016)

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