Attacke auf Istanbuls Hauptschlagader

(c) APA/AFP/OZAN KOSE
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Der Flughafen in Istanbul gilt als Hochsicherheitszone. Deshalb fragt die Öffentlichkeit nach dem Anschlag: Wie konnten die Waffen der drei Selbstmordattentäter unentdeckt bleiben?

Istanbul/Wien. Es ist ein warmer Sommerabend in Istanbul, auf dem Atatürk-Flughafen kommen um diese Tageszeit viele Maschinen aus dem Ausland an. Die Passagiere werden von Freunden oder Verwandten abgeholt, die über eine Zugangsschleuse in die Ankunftshalle des internationalen Teils des Flughafens kommen. Doch irgendetwas stimmt nicht, bemerken einige Polizisten. Die Beamten, so wird es die Zeitung „Hürriyet“ später melden, werden misstrauisch, als sie unter den Menschen an der Schleuse einen Mann in einem Mantel sehen – bei Sommertemperaturen von mehr als 30 Grad eine sehr ungewöhnliche Kleidung. Offenbar soll der Mantel einen Sprengstoffgürtel oder ein Kalaschnikow-Schnellfeuergewehr verstecken.

Als die Beamten den Mann und seine bis zu sechs Begleiter stellen, eröffnen sie das Feuer, kurz darauf sprengt sich einer der Täter in die Luft. Es ist kurz vor 22 Uhr. Für viele Menschen, die am Röntgengerät der Sicherheitsschleuse warten, gibt es kein Entrinnen. Ein zweiter Selbstmordattentäter läuft durch das Chaos, um in die Ankunftshalle zu gelangen, geht nach einem Schuss der Polizei zu Boden und zündet ebenfalls eine Bombe. Ein weiterer Angreifer eröffnet vor der Ankunftshalle das Feuer auf angekommene Passagiere an einem Taxistand. Mindestens 41 Menschen sterben, 240 werden verletzt. Hinter dem Terrorakt scheint der sogenannte Islamische Staates (IS) zu stecken.

Hochzeit stand kurz bevor

Der Kugelhagel der Terroristen trifft auch die junge Computertechnikerin Gülşen Bahadır, die auf dem Flughafen tätig ist. Nur wenige Tage zuvor schreibt sie auf sozialen Medien: „Im Krieg gibt es nur Verlierer.“ Am Mittwochnachmittag erliegt sie ihren Verletzungen. Dutzende Reisende, Taxifahrer und Polizisten sterben, die ersten Leichen werden gleich am Mittwoch den Angehörigen zur Bestattung übergeben. Unter den Schwerverletzten ist der 47-jährige Engin Purtul, der zum Flughafen gekommen war, um seine aus Deutschland ankommende Nichte abzuholen. „Als wir von den Ereignissen gehört haben“, sagt die Tochter eines Todesopfers, eines Taxifahrers, „haben wir dauernd angerufen. Er ging nicht ans Telefon, also sind wir direkt ins Krankenhaus gefahren. Wir haben gehofft, dass er nicht hier ist, aber er war hier.“ Unter den Opfern befindet sich ein junges Ehepaar, das gemeinsam auf dem Flughafen arbeitete, sowie ein junger Mann, dessen Hochzeit in einigen Tagen stattfinden sollte. Ein Reiseführer und ein Übersetzer, die Touristengruppen begleiteten, werden ebenfalls von den Detonationen erfasst. Bei den meisten Opfern handelt es sich um türkische Staatsbürger, wie die Behörden bekannt geben; ersten Erkenntnissen zufolge werden 13 Ausländer getötet, darunter fünf Saudis, zwei Iraker, ein Usbeke, ein Chinese und ein Jordanier.

Als es zu den Explosionen kommt, reißen Teile der Deckenverkleidung des Terminals ab, Menschen rennen schreiend um ihr Leben. Ein Video zeigt, wie sich Passagiere in einem Bekleidungsgeschäft versteckt halten. Die Behörden sperren die Zufahrtsstraßen und schicken Dutzende Rettungswagen zum Tatort, während schwer bewaffnete Polizisten nach möglichen weiteren Angreifern suchen. Die Bilder gleichen denen vom Anschlag in Brüssel vom März, der ebenfalls auf das Konto von IS-Sympathisanten ging.

Eine türkische IS-Zelle mit Beteiligung einiger Täter aus Zentralasien habe den Istanbuler Airport angegriffen, sagt der Terrorexperte Metin Gürcan. Insgesamt sieben Männer sollen an dem Anschlag beteiligt gewesen sein, zumindest bei den drei toten Attentätern soll es sich um Ausländer handeln. Einer von ihnen soll festgenommen worden sein, drei seien noch auf der Flucht. Offiziell sind diese Angaben noch nicht bestätigt worden. Zum Attentat bekennt sich zunächst noch niemand. An drei Stellen kommt es jedenfalls zu Explosionen: auf dem Parkplatz, vor der Metro-Station und vor der Ankunftshalle. Die Polizei dürfte durch ihren Versuch, die Attentäter zu stoppen, eine noch schlimmere Katastrophe verhindert haben.

Inspektion vor dem Anschlag

Wie in Brüssel wird auch in Istanbul der Flugbetrieb erst einmal eingestellt, doch nur wenige Stunden später starten und landen die ersten Maschinen wieder. Premier Binali Yıldırım eilt nach Istanbul: Die Türkei will zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern lässt. Yıldırım lässt die geschockte Nation auch wissen, dass es keine Sicherheitsmängel auf dem Flughafen gegeben habe – eine recht merkwürdige Aussage, wie Kritiker finden. Medienberichten zufolge ergab die Auswertung von Sicherheitskameras, dass die Täter den Anschlagsort am Dienstagmorgen inspiziert hatten und am Abend mit einem Taxi zum Flughafen zurückkehrten.

Obwohl alle Fahrzeuge auf dem Istanbuler Airport wie an anderen Flughäfen der Türkei am Eingang eine Polizeikontrolle passieren müssen, bleiben die Waffen des Terrorteams unentdeckt. Bei so vielen Todesopfern ein Versagen der Sicherheitsbehörden auszuschließen, ist ein starkes Stück, findet der Politologe Behlül Özkan. Auf Twitter kommentiert er, diese Haltung sei ein Zeichen eines autokratischen Regimes, das die Mission der Sicherheitsbehörden im Schutz der Regierung sehe – nicht im Schutz der Gesellschaft.

Auf einen Blick

Terroranschlag. Mindestens 41 Menschen sterben bei einem Anschlag auf den Istanbuler Atatürk-Flughafen. Drei Selbstmordattentäter, die der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) angehören sollen, sprengen sich an drei verschiedenen Standorten in die Luft. Der türkische Premier Binali Yıldırım hat Sicherheitsmängel auf dem Flughafen ausgeschlossen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2016)

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