Ostukraine: Wenn Einfrieren die attraktivste Lösung ist

(c) APA/AFP/ALEKSEY FILIPPOV
  • Drucken

Während die Lage im Konfliktgebiet zuletzt wieder eskaliert ist, sind die Positionen in den Verhandlungen zwischen Kiew und den abtrünnigen Gebieten verfahren. Das Vertrauen in den Minsk-Prozess schwindet.

Moskau. Wassyl Slipak war Opernsänger. Der gebürtige Ukrainer lebte seit vielen Jahren in Frankreich. Auf Werbefotos ist sein Haar halb lang, der Kinnbart gepflegt, das Lächeln milde. Der Bassbariton verkörperte Mussorgskys Boris Godunow, den Fürsten Gremin in „Eugen Onegin“ und sang zahlreiche Rollen in Verdi-Opern – zuletzt den Ramfis in der „Aida“ im Mai 2014 in Lyon. Dann schloss sich der 41-Jährige dem ultranationalistischen Rechten Sektor an und kämpfte in der Nähe von Donezk. Sein Haar hatte er nach Kosakenart bis auf einen Zopf abrasiert, statt Anzug trug er Flecktarn. Am Mittwochmorgen traf ihn die Kugel eines Heckenschützen. Zwei Tage zuvor hatte er auf Facebook um Hilfe gebeten: „Burschen, Mädels, kann jemand 50 schwarze Barette organisieren?“ Es war seine letzte Statusmeldung.

Ein klassischer Sänger als Kämpfer: Slipaks Schicksal sticht aus den tagtäglichen Todesmeldungen heraus. Viele Menschen, die im Krieg in der Ostukraine sterben, bleiben namenlos – egal, ob Soldaten, Separatisten oder Zivilisten. Die internationale Aufmerksamkeit ist mehr als zwei Jahre nach Beginn des bewaffneten Konflikts abgeflaut. Das Sterben im Osten geht weiter. Mindestens 9449 Menschen wurden seit April 2014 getötet, gab die UN diese Woche bekannt, knapp 22.000 verletzt. Sie spricht von einer "konservativen Schätzung". Die tatsächliche Opferzahl soll weit höher sein.

Zur Routine sind mittlerweile auch die Appelle der internationalen Beobachter geworden. Sie zeigen nur geringe Wirkung. Alexander Hug, Chef von 707 OSZE-Monitoren in der Ukraine, wiederholte gestern in Kiew bei seinem allwöchentlichen Briefing den Aufruf an die Konfliktparteien, Zurückhaltung zu üben. In den vergangenen zwei Tagen hat sich die Lage im Kriegsgebiet wieder einmal verschlechtert. Schwere Waffen kamen in Schyrokyne und rund um Debalzewe zum Einsatz. Die ukrainische Armee ist im Zuge eines Gefechts offenbar vorgestoßen. Statt anzugreifen müssten sich beiden Seiten zurückziehen, wie im 13-Punkte-Plan von Minsk vorgesehen, mahnte Hug. Der Schweizer rief die Konfliktparteien zu "Mut" auf – Mut für einen Vertrauensvorschuss. An Vertrauen fehlt es. Routinemäßig beschuldigt man die Gegenseite, für den Waffeneinsatz allein verantwortlich zu sein.

Kampfrhetorik hat ausgedient

Einen Eindruck von der verfahrenen Lage in Minsk gab gestern ein Auftritt der ostukrainischen Separatisten in Moskau. Denis Puschilin und Wladislaw Dejnego, Verhandlungsführer der Donezker bzw. Luhansker Volksrepublik, zogen Bilanz über das erste Halbjahr. Die Stimmung war gedämpft. Die Kampfrhetorik hat ausgedient.

Neben der mangelnden Einhaltung des Waffenstillstands finden beide Seiten auch in den politischen Fragen zu keinem Kompromiss: etwa beim Gesetz über die Lokalwahl, die laut Minsker Abkommen in den abtrünnigen Gebieten durchgeführt werden soll. In Kiew, wo dieses und ähnliche Vorhaben bei Elite und Bevölkerung sehr umstritten sind, setzt man zusehends auf Verzögerung. Man wolle zuerst die Kontrolle über die Grenze zu Russland zurückbekommen und bewaffnete OSZE-Beobachter bei der Wahl einsetzen, fordert die Regierung. Beides lehnen die Separatisten ab.

Desillusioniert beschuldigte Dejnego Kiew der "Sabotage". Doch auch Dejnego hat eigentümliche Vorstellungen von der Lokalwahl in der Minirepublik: Kiews Forderung nach Teilnahme ukrainischer Parteien nennt Dejnego "absurd". Nur Kandidaten, die über längere Zeit auf dem Territorium der Luhansker Volksrepublik gelebt hätten, dürften antreten.

Der Kreml-nahe Politologe Alexej Tschesnakow hält ein "pessimistisches Szenario" am wahrscheinlichsten: „Das Einfrieren des Konflikts auf viele Jahre.“ Auf sein "Katastrophenszenario" – das Aufflammen großflächiger Kämpfe – hat Moskau längst keine Lust mehr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.07.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.