Großbritannien: Shakespeare-Drama bei Tories um „King Boris“

Boris Johnsons pompöser Auftritt. Der Brexit-Führer spannte alle auf die Folter – nur um dann seinen Verzicht auf eine Kandidatur für den Tory-Vorsitz zu verkünden.
Boris Johnsons pompöser Auftritt. Der Brexit-Führer spannte alle auf die Folter – nur um dann seinen Verzicht auf eine Kandidatur für den Tory-Vorsitz zu verkünden. (c) APA/AFP/LEON NEAL
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Brexit-Galionsfigur Boris Johnson verzichtete auf seine Bewerbung als Parteichef der Konservativen, nachdem sein Mitstreiter Michael Gove ihm in den Rücken gefallen war.

Einer nach dem anderen hatte seinen Hut in den Ring geworfen, ganz klassisch via Kommentar in der „Times“ wie Innenministerin Theresa May oder gänzlich überraschend wie Justizminister Michael Gove via Eilmeldung der BBC. Eine Woche nach dem Brexit-Referendum, das die politischen Verhältnisse im Vereinigten Königreich durcheinandergerüttelt hatte wie kaum ein anderes Ereignis seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nahm das Königsdrama um den Parteivorsitz der britischen Konservativen seinen Lauf, das mit seinen Überraschungsmomenten und Wendungen der Dramaturgie eines Shakespeare-Stücks folgte.

Arbeitsminister Stephen Crabb, Energieministerin Andrea Leadsom, Ex-Verteidigungsminister Liam Fox – sie alle hatten ihre Kandidatur für den Parteivorsitz der Tories und das Amt des Premiers verkündet. Die Doppelfunktion war nach David Camerons Rücktrittsankündigung vakant geworden. Das Ende der Bewerbungsfrist Donnerstag, Schlag Mittag, rückte näher, die Minuten verstrichen, und nur Boris Johnson, ursprünglich der große Favorit, hatte sich noch nicht erklärt. Als der schillernde Londoner Ex-Bürgermeister im dekorativen Rahmen eines Hotels schließlich doch noch vor die Medien trat, hatte er – typisch Johnson – nach einer salbungsvollen Ouvertüre über die gloriose Zukunft seines Landes eine handfeste Sensation in petto.

Nach reiflicher Überlegung, so berichtete die 52-jährige Galionsfigur der Brexit-Bewegung, habe er sich entschlossen, auf eine Kandidatur zu verzichten. Er sei schlicht nicht die richtige Person, das Land zusammenzuführen und es aus der EU zu führen, sagte er ungewohnt kleinlaut. Es markiert eine neue Volte in der Karriere des Churchill-Bewunderers und Biografen, des skrupellosen Populisten und begnadeten Charismatikers, des Ex-Brüssel-Korrespondenten der „Times“ und des „Daily Telegraph“ mit der farbigen Vita, den türkisch-deutsch-russisch-französischen Wurzeln und dem Geburtsort New York. Mit Cameron – teilweise mit Gove – teilt er die elitäre Ausbildung in Eton und Oxford samt Exzessen im Bullingdon Club, und als Altphilologe versteht er sich darauf, Witze auf Latein und Altgriechisch zu erzählen.

Womöglich war Johnson über das Wochenende, das er auf seinem Landsitz mit Cricket, dem Zeitvertreib der Oberschicht, verbrachte, zur Besinnung gekommen, was er da angerichtet hatte. Hat er kalte Füße bekommen, ist ihm die plötzliche Verantwortung über den Kopf gewachsen, fragen sich Freunde wie Feinde. Er wollte es ja nie, so kolportieren seine Freunde, zum Brexit kommen lassen, sondern sich eine möglichst günstige Ausgangsposition für die Nachfolge Camerons in ein paar Jahren schaffen. Er habe die Kampagne als politisches Spiel angelegt.

Ein Spaßvogel polarisiert das Land

Der exzentrische Polit-Spaßvogel polarisiert das Land, dabei will er ja vor allem geliebt werden. Mit einem Mal schlagen dem Politiker Hass und Verachtung entgegen, vor seinem Stadthaus in London empfangen ihn Buhrufe. Promi-Koch Jamie Oliver wünscht ihn zum Teufel, und innerhalb der Tory-Fraktion in Westminster, die am kommenden Montag die zwei aussichtsreichsten Anwärter für eine Urabstimmung unter den Mitgliedern bis zum 9. September kürt, formiert sich auf breiter Front Widerstand gegen den beim Volk und der Parteibasis beliebten Johnson. „Stop Boris“ lautet die Parole unter vielen Briten – und „Anyone but Boris“ jene unter zahlreichen Tory-Abgeordneten.

In Umfragen hatte ihm zuletzt May den Rang abgelaufen. Die Innenministerin, eine Hardlinern und Proponentin von Recht und Ordnung und vom „Independent“ als Erbin Margaret Thatchers, der Eisernen Lady, charakterisiert, hat sich als Kompromisskandidatin und Integrationsfigur zwischen den Parteiflügeln, dem Pro- und Anti-EU-Lager, ins Spiel gebracht. Sie sparte auch nicht mit Seitenhieben gegen Johnson, den Zocker aus wohlhabendem Haus. Im Wahlkampf war die Tochter eines anglikanischen Geistlichen, bekannt für ihr extravagantes Schuhwerk, demonstrativ in Deckung gegangen. „Brexit heißt Brexit“, ohne jede Hintertür, sagte sie nüchtern, in der Manier Angela Merkels. Einen britischen Austrittsantrag stellte sie erst für Ende dieses Jahres in Aussicht – und Wahlen in Großbritannien im Jahr 2020.

Möglicherweise hat aber erst ein politisches Manöver des vermeintlichen Mitstreiters, des etwas unbeholfenen und farblosen Michael Gove, Johnsons hochfliegenden Ambitionen den Dolchstoß versetzt. Die beiden waren Cameron in den Rücken gefallen, als sie sich der Brexit-Kampagne anschlossen. Nach dem Austrittsvotum der Briten traten sie gemeinsam vor die Presse, sichtlich vom Schock gezeichnet und um Schadensbegrenzung bemüht. Kurz darauf kündigte Gove öffentlich die Unterstützung für Cameron an.

Am Mittwoch zirkulierte indessen ein privates E-Mail von Goves Frau, in dem sie ihren Mann dazu drängt, auf Garantien seitens Johnsons zu bestehen und sich im Tauschhandel für einen hochkarätigen Job, etwa als Außenminister, abzusichern. Drei Stunden vor der Entscheidung Johnsons stieg dann Gove selbst in den Ring, obwohl er die Spitzenposition für sich bisher stets ausgeschlossen hatte. Er sprach seinem Parteifreund Johnson die charakterliche Reife und die Führungsqualitäten ab – und qualifizierte sich aus dem Stand als Herausforderer Mays.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.07.2016)

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