Beslan: Totenstille im Turnsaal des Grauens

(c) Eduard Steiner
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Fünf Jahre nach dem Geiseldrama in der Schule der Kleinstadt Beslan im Nordkaukasus sind die seelischen Wunden nicht verheilt. Die Aufklärung des Massakers ist auch nicht in Sicht.

Zum Schulbeginn erreicht die Schlaflosigkeit ihren Höhepunkt. Vielleicht drei Stunden wird Nadja Gurijewa in den nächsten Tagen im Reich der Träume versinken. Und dort die Unfassbarkeit der Welt scheinbar klarer, in Wahrheit jedoch noch wirrer erleben. Aber auch den Rest des Jahres über wirken die Tabletten nur um einen Deut besser. Immerhin gelingt es dann, sich vier Stunden von der Wirklichkeit freizuspielen. Alles, was länger ist, sei Erholung, sagt sie: „Aber das kommt selten vor.“

Handgestickte Ikonen prangen von den Wänden. Auf dem Foto daneben Borja und Verotschka, wie Nadja ihre Kinder zärtlich nennt, beim Ballett. „Sie haben das Tanzen geliebt“, sagt sie und verstummt. Vom Hof dringt Kindergeschrei in die liebevoll gestaltete Kleinwohnung in der Ulica Mira, der Straße des Friedens. „Das Sticken beruhigt die Nerven“, erzählt sie. „Der Friede aber will auch fünf Jahre nach den Ereignissen nicht einkehren.“

186 verkohlte Kinder. „Die Ereignisse“, wie man in Beslan sagt, markieren den Beginn einer neuen Zeitrechnung in der russischen Kaukasusrepublik Nordossetien. Am 1. September 2004 überfielen mehr als 30 Terroristen die „Schule Nummer 1“ in der Stadt mit ihren 36.000 Einwohnern. 333 Menschen starben – darunter 186 Kinder, bis zur Unkenntlichkeit verkohlt. 760 Personen wurden verletzt. Der angeblich einzige überlebende Terrorist wurde später zu lebenslanger Haft verurteilt.

Als Lehrerin für Geschichte hatte sich Nadja mit ihrer Klasse und ihren eigenen Kindern im Turnsaal, wo die Terroristen die Geiseln zusammenpferchten, wiedergefunden. Auf dem Weg zur Schule hatte ihr jüngstes Kind Ira, das die Geiselnahme im Unterschied zu ihren Geschwistern überlebte, von einem Traum erzählt, in dem ihr toter Großvater die Kinder zu sich ins Grab rief. Von ähnlichen „Vorwarnungen“ im Schlaf erzählen in Beslan viele. Von Alpträumen ohnehin.

Kauern im Kot. Drei Tage lang ließen die Terroristen ihre Geiseln im Turnsaal verrecken. Ließen sie zwischen Sprengsätzen im eigenen Kot und Urin kauern. Verweigerten ihnen Nahrung, ja sogar Wasser.

Heute stehen Dutzende Wasserflaschen als Symbol des Lebens neben dem Holzkreuz im zerstörten Turnsaal. Verkohlte Balken hängen unter dem neuen Glasdach. „Schießt nicht auf mich! Ich will lernen!“, heißt es in einem Gedicht auf den Wänden mit 333 Porträtfotos. Zwei junge Frauen in Kopftüchern schreiten die Stätte des Grauens gesenkten Hauptes ab wie eine Kathedrale. Ein Junge rast auf dem Fahrrad heran und fragt, ob wir nicht seinen Spielkameraden gesehen hätten. Von den Dächern schnellt gespenstisch ein Schwarm Vögel in die Lüfte.

Gegen den Widerstand anderer Mütter, die die Schule abreißen lassen und eine Kirche bauen wollten, hat die Organisation „Mütter von Beslan“ soeben durchgesetzt, die Ruine als Mahnmal zu erhalten. „Unsere Kinder haben sogar die Geiselnahme ertragen müssen“, sagt Susanna Dudijewa, Vorsitzende der Organisation: „Und da sollten wir Überlebenden den Anblick des Ortes nicht aushalten?“

Kein Schlaf. Im Büro von Dudijewa reicht man Tee und Kekse. Nicht nur sie ist da, mehrere Frauen suchen Trost im Austausch. Zum Jahrestag hin schlafen auch sie schlechter als sonst.

Dudijewas Sohn Zaur war 13, als er in der Schule starb. Die ältere Tochter Zarina überlebte trotz Granatsplittern, die nun herausoperiert werden. Derzeit arbeitet sie als Juristin in Moskau.

Auch die 48-jährige Mutter Susanna, studierte Ökonomin, will Jus studieren, um besser gewappnet zu sein für den Kampf mit den Behörden. Trotz Versprechen von Ex-Kremlchef Wladimir Putin nämlich, die „Ereignisse“ aufzuklären, sind die Ermittlungen nicht abgeschlossen. Susanna und ihre Mitkämpfer sprechen von Hinhaltetaktik: „Putin hat sein Wort nicht gehalten.“

In Beslan hatte man gehofft, dass die Justiz die Frage klärt, ob die chaotische Eskalation und der Brand am dritten Tag der Geiselnahme durch Explosionen von Sprengkörpern der Terroristen oder Angriffe mit Granat- und Flammenwerfern der russischen Einsatzkräfte verursacht wurde. Dazu die Frage, ob es Mitwisser gab. „Es wird wohl viele Jahre dauern, bis die Wahrheit ans Licht kommt“, schreibt der Beslaner Journalist Murat Kabojew in seinem neuen Buch über das Massaker.

Über dem Rechtlichen steht die Psyche. Wie das Leid überwinden? Am Ende doch auf den Parapsychologen Grigori Grabowoj hoffen, der bereits im Knast sitzt, weil er vor den Müttern von der „Auferstehung“ ihrer Kinder faselte?

Nasses T-Shirt als Rettung. Elina Plijewa (13) ging, wie viele, in Therapie. Oft geht sie in die Turnhalle, um Wasser zu bringen und Stunden dazusitzen. Eben ist sie vom Kinderlager gekommen. Zu Beginn der Geiselnahme hatte sie aufs Klo gehen dürfen und in weiser Voraussicht ihr T-Shirt in Wasser getaucht, um im Saal-Gefängnis daran zu saugen.

Ein 13-Jähriger fragt bis heute im Unterricht, ob er kurz raus dürfe, erzählt Nadja. „Die Lehrer dachten erst, er müsse aufs Klo. In Wahrheit geht er durch unsere neue Schule im anderen Stadtteil und kontrolliert, ob keine Bewaffneten da sind:“ Gleich wie Nadjas Tochter Ira, die aus Schuldgefühl gegenüber ihren toten Geschwistern monatelang kaum aß. Heute hört sie „Rammstein“.

Die Kinder verarbeiten die Ereignisse schneller als Erwachsene, sagen Psychologen. Sie wolle eigentlich nicht mehr darüber reden, sagt Alina. Aber sie will, dass die Schulruine bleibt.

Gott war wieder nicht da. Die Tragödie hat die Menschen in Beslan nicht geeint, sondern getrennt. Jeder hat seine Version über den Hergang, jeder seinen Zorn. „Wo war Gott in Beslan?“, fragt Iras Großmutter.

Nadja, Iras Mutter, ließ sich nach dem Drama taufen. Ihre Kinder hatten sich die Taufe in den Monaten vor der Ermordung so gewünscht. Ira will Ärztin werden, „um verwundete Soldaten zu behandeln“. Die meisten Schüler wollten Ärzte oder Juristen werden, viele wollten zu Militär oder Polizei, sagt Nadja: „Die Zahl jener, die zum Kampfsport geht, hat sich vervielfacht.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2009)

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