Die notwendigen Gespräche über ein neues Verhältnis mit der EU halten für die neue britische Regierungschefin Fallstricke ohne Ende bereit.
Brüssel/Wien. Dass Theresa May als zweite Frau nach Margaret Thatcher in die Downing Street 10 einziehen darf, verdankt sie einem einzigen Faktor: dem Votum der britischen Wähler für den Austritt aus der Europäischen Union. Nachdem das politische Lager der Brexit-Befürworter infolge des gewonnenen Referendums implodiert ist, blieb die Innenministerin als einzige ernsthafte Anwärterin für das Amt des Premierministers übrig. Man kann bereits jetzt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Mays (erste?) Amtszeit vom Thema Brexit dominiert wird, denn die Verhandlungen mit den einstigen EU-Partnern werden Jahre benötigen. Ein Überblick über die heikelsten Punkte:
Die Regeln des Brexit
Die erste dringende Herausforderung, der sich die frischgebackene Premierministerin stellen muss, ist die Festlegung der Spielregeln. Artikel 50 des EU-Vertrags sieht nämlich vor, dass Verhandlungen über die einvernehmliche Scheidung maximal zwei Jahre dauern dürfen – es sei denn, sie werden einstimmig verlängert. Die Uhr beginnt in dem Moment zu ticken, in dem die Briten ihren Austrittswunsch offiziell kundtun. Für London ist das ein struktureller Nachteil, denn sollte es keine gütliche Einigung geben, müssen sie die EU ohne einen Sonderdeal verlassen. Im britischen Interesse liegt es also, die Beziehungen zur EU zu regeln, bevor Artikel 50 aktiviert wird. Das Problem ist nur, dass die Interessen der Europäer entgegengesetzt sind – sie wollen mit London erst dann verhandeln, wenn der Countdown zum Brexit angelaufen ist, weil der fixe Austrittstermin die Briten zu Zugeständnissen zwingt. Der erste Streit ist somit programmiert: May will Artikel 50 frühestens Anfang 2017 aktivieren und bis dahin informell verhandeln, während Brüssel informelle Gespräche vor dem offiziellen Austrittsgesuch ausschließt. De facto sitzt die EU am längeren Ast, denn solange die Verhandlungen nicht angelaufen sind, müssen die Briten alle Regeln der Union befolgen, also ins EU-Budget einzahlen und die Personenfreizügigkeit akzeptieren – genau dagegen haben aber die britischen Wähler gestimmt.
Binnenmarkt und Freizügigkeit
Zum zentralen und gleichzeitig schwierigsten Verhandlungspunkt mit der EU zählt Großbritanniens weitere Teilnahme am EU-Binnenmarkt. Theresa May wird zum einen die nationalen Wirtschaftsinteressen im Auge behalten müssen, die für eine Vollteilnahme sprechen, zum anderen die innenpolitischen Befindlichkeiten zur Freizügigkeit von EU-Arbeitnehmern. Dass Großbritannien eine der vier Freiheiten des Binnenmarkts (Freier Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr) ausklammern kann, ist kaum möglich. Will die Insel weiterhin ihre Waren in die EU liefern und Dienstleistungen anbieten, muss sie den Arbeitsmarkt für EU-Bürger offenhalten. Nicht anders ist es der Schweiz ergangen, die einen ähnlichen Status hat, wie ihn London anstrebt. Fest steht, dass die Briten nach dem Austritt über die Regeln des Binnenmarkts nicht mehr mitentscheiden können. Die von Mays Vorgänger David Cameron ausgehandelten Sonderregeln für eine Einschränkung von Sozialleistungen an Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten ist übrigens hinfällig. Sie hätten nur bei einem EU-Verbleib Großbritanniens gegolten.
Die Zukunft der City of London
Mit mehr als einer Million Beschäftigter (direkt und indirekt) sowie einem Anteil von zwölf Prozent an der Wirtschaftsleistung ist der Finanzplatz London ein wesentlicher Faktor für den Wohlstand Großbritanniens. Schätzungen zufolge werden in der City of London rund 40 Prozent des weltweiten Devisenhandels abgewickelt und nahezu die Hälfte des bei Hedgefonds angelegten Vermögens verwaltet. Mit ein Grund für den Erfolg ist die Befugnis, von London aus Finanzdienstleistungen in der gesamten EU anzubieten, doch diese sogenannten Passporting Rights sind an die EU-Mitgliedschaft gebunden. Mehrere kontinentale Finanzplätze (etwa Paris und Frankfurt) wollen den Brexit nutzen, um den eigenen Standort auf Kosten der City aufzuwerten: Will May die Personenfreizügigkeit wie versprochen einschränken, wird sie dies mit eingeschränktem Zugang zum EU-Binnenmarkt für britische (Finanz-)Dienstleister abgelten müssen.
Fischfang in der Nordsee
Für den EU-Gegner Nigel Farage von der United Kingdom Independence Party war die Fischerei einer der wichtigsten Gründe für den Brexit. Wenn Großbritannien die Kontrolle über seine Hoheitsgewässer in der Nordsee erlangt und die Trawlerflotten aus der restlichen EU verbannt, wird dies pro Jahr mehrere Milliarden Pfund bringen, behauptet der kürzlich zurückgetretene UKIP-Chef. Nachdem die ausschließliche Wirtschaftszone eines Seeanrainers 200 Seemeilen breit ist, müssten Fischer aus der restlichen EU weite Teile der Nordsee meiden, weil sie für Briten reserviert wären – es sei denn, die EU würde den Zugang mit anderen Zugeständnissen (etwa für die Londoner City) erkaufen.
Zahlungen an Brüssel
Großbritannien wird sich den Nettobeitrag an die EU von zuletzt fünf Milliarden Euro jährlich zwar ersparen. Im Gegenzug muss es aber für alle EU-Programme, an denen es weiterhin teilnehmen möchte, einen Beitrag entrichten. Will London an Forschungsprogrammen, an der Vernetzung der Polizeibehörden oder am Studentenaustausch (Erasmus) partizipieren, muss es dafür zahlen. Das deutlich kleinere Norwegen überweist 2,7 Milliarden Euro für den Zeitraum 2014 bis 2021 an die EU, um an solchen Programmen teilzunehmen. Die verbleibenden Mitgliedsländer werden großes Interesse an Zahlungen aus London haben, da sie sonst die gesamten Nettozahlungen der Briten unter sich aufteilen müssten.
Neue Außengrenzen
Großbritannien nimmt nicht an Schengen teil. Insoweit gibt es mit dem Austritt wenig Änderungen im Grenzmanagement. Aber das Königreich hat mit Irland künftig eine EU-Außengrenze. Statt der freien Durchfahrt müssen hier wieder Kontrollen eingeführt werden. Die Öffnung der irischen Grenze war Symbol für die politische Befriedung des Nordirland-Konflikts. Wie eine Verhandlungslösung bei diesem heiklen Thema aussehen könnte, ist noch völlig offen. Denn es reicht nicht aus, dass Großbritannien mit Irland eine Vereinbarung schließt, es müssen alle 27 bisherigen EU-Partner zustimmen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2016)