Dramatische Wende im syrischen Bürgerkrieg

A boy rides a bicycle near damaged buildings in the rebel held area of Old Aleppo
A boy rides a bicycle near damaged buildings in the rebel held area of Old Aleppo(c) REUTERS (ABDALRHMAN ISMAIL)
  • Drucken

Wer Aleppo kontrolliert, beherrscht das Land, heißt es. Nach zwei Jahren ist es dem Regime mithilfe russischer Bomben nun gelungen, die Metropole einzukesseln. Lebensmittel und Benzin sind bereits nach wenigen Tagen knapp.

Um 4.30 Uhr, kurz nach Sonnenaufgang, begann der Horror. Rund 300 Raketen und Mörser fielen auf Wohngebiete im Westen Aleppos, der vom syrischen Regime kontrolliert wird. Ganze Straßenzüge im christlichen Viertel der Assyrer waren danach nur noch Schutt und Asche. Ein verzweifelter Vater, über und über mit dickem Staub bedeckt, umarmte einen seiner beiden kleinen Söhne, die er tot in einem Feldlazarett gefunden hatte. „Er ist von uns gegangen, er starb als Märtyrer“, klagte der Mann weinend.

Der Artilleriebeschuss zu Beginn der Woche war allerdings nur der Auftakt zu einer groß angelegten Offensive der Opposition. Die Rebellen aus dem Ostteil der Stadt griffen gleich an mehreren Frontabschnitten Regimestellungen an. Mit aller Gewalt sollen die Einkesselung und die damit sich anbahnende Niederlage in der mittlerweile völlig zerstörten Industriemetropole verhindert werden.

Schlangen vor Bäckereien

Die syrische Armee ist am Wochenende bis auf 400 Meter an die letzte offene Nachschubroute der Rebellen herangekommen. Die Castellostraße im Norden Aleppos ist nun unpassierbar und die Opposition von der Außenwelt abgeschnitten. Neben den Kämpfern sollen noch rund 200.000 Zivilisten in der Stadt wohnen. Sie muss man nun zu anderen 600.000 Menschen hinzuzählen, die in Syrien seit vielen Monaten eingeschlossen sind.

In Aleppo sind in den vergangenen Tagen die Lebensmittel- und Benzinpreise in die Höhe geschossen. Vor den Bäckereien bildeten sich bereits lange Schlangen für Brot. Die Preise für Früchte und Obst haben sich verdreifacht. Bald werden die letzten Vorräte verbraucht sein, die die Bewohner angelegt haben. Und dann droht der Hunger. Der Regierung in Damaskus dürfte das wieder einmal egal sein. Nur der militärische Erfolg zählt. „Wer Aleppo kontrolliert, regiert das Land“, heißt ein syrisches Sprichwort. Die Einkesselung der ehemaligen Millionenstadt bedeutet eine Wende im Bürgerkrieg.

Durchhalteparolen

„Wir haben das Regime in allen Teilen der Stadt angegriffen, um es von seinem Hauptziel, der Castellostraße, abzulenken“, sagte Abu Hamzi al-Arandes, der Kommandant der 1. Brigade. Sie ist eine von über 30 Rebellenmilizen, die sich zum Verteidigungsbündnis Fatah Haleb zusammengeschlossen haben. Vom wahllosen Beschuss der Wohngebiete auf Regimeseite wollte der Anführer nichts wissen. „Wir greifen keine Zivilisten an, was sollte das bringen?“, behauptete er am Telefon gegenüber der „Presse“.

Er wisse nicht, wer für die Toten und Verletzten verantwortlich sei. „Assad-Truppen hätten oft genug ihre eigenen Zivilisten beschossen, um es uns in den Schuhe zu schieben“, fügt er dann wenig glaubhaft hinzu. Erst vor einer Woche hatte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International den Rebellen in Aleppo Kriegsverbrechen und andere schwerwiegende Verstöße gegen internationales Recht vorgeworfen. Von einer baldigen Niederlage will al-Arandes nichts wissen. Man hätte bei der Offensive am Montag ohne Probleme alle verlorenen Gebiete wieder zurückerobert, erklärt er. Nur die Bombenangriffe der syrischen und russischen Luftwaffe hätten sie wieder zurückgetrieben. „So heftig haben sie uns noch nie angegriffen“, erzählt al-Arandes.

Zudem sei das Gebiet um die Castellostraße ein offenes Gelände und kein Stadtgebiet, in dem man sich verstecken könnte. „Selbst wenn ich alle meine Männer dorthin schicke, brächte das nichts, denn sie würden alle sterben.“ Von einer dauerhaften Belagerung Aleppos will er trotzdem nichts wissen. „Wir haben noch viele Operationen vor“, meinte der Kommandant. „Wir werden eine Einkesselung über längere Zeit nie zulassen.“

Kampf gegen al-Qaida

Im März dieses Jahres war der Abzug der russischen Interventionstruppen mit Pauken und Trompeten vollzogen worden. Doch die russische Luftwaffe ist in Syrien einsatzfähig geblieben und fliegt weiter ihre Angriffe. In Aleppo haben die Bomben und Raketen der russischen Kampfflugzeuge nun dem Regime einen lang gehegten Triumph ermöglicht. Seit über zwei Jahren versuchten die syrische Armee und ihre schiitischen Hilfstruppen aus dem Iran, Libanon und Afghanistan vergeblich, Aleppo einzunehmen.

Der Vorstoß in Aleppo verändert das Gleichgewicht im syrischen Bürgerkrieg und bringt der Regierung in Damaskus eine entscheidend bessere Position bei den anstehenden Friedensverhandlungen in Genf. Aber zum großen Gewinner des Konflikts kann das Regime nicht mehr werden. „Mit Aleppo mag der Norden Syriens für die Opposition verloren gehen“, sagte Abu Mohammed, ein ehemaliger Rebellenkommandeur aus der Stadt. „Aber der Widerstand gegen das Regime ist in Damaskus und in Daraa, im Süden des Landes, immer noch so stark, dass von einem Ende der Revolution absolut nicht gesprochen werden kann.“

US-Deal mit Russland

Für das Regime und Russland könnte sich mit der Konsolidierung der Einkesselung Aleppos jedoch noch ein anderer Vorteil ergeben. Mit frei werdenden militärischen Kapazitäten könnten sie gezielt gegen den al-Qaida-Ableger in Syrien vorgehen. Die al-Nusra-Front hat ihre Hauptbasis in der Region Idlib und ist ebenfalls ein „prioritäres Ziel“ des Pentagons. Und um dieser Terrorgruppe den Garaus zu machen, haben sich die USA laut amerikanischen Medienberichten sogar mit Russland auf eine Militärkooperation in Syrien eingelassen. Erst vergangene Woche sollen US-Präsident Barak Obama und sein russischer Amtskollege, Wladimir Putin, den Deal bei einem Telefongespräch bekräftigt haben.

Die strategischen Überlegungen dabei sind relativ einfach. Die Terrormiliz Islamischer Staat scheint jetzt unausweichlich auf der Verliererstraße zu sein. Nun sollte man die Gelegenheit nutzen, um auch al-Qaida in Syrien zuzusetzen. Zwei Terrorgruppen mit einem Schlag zu erledigen, dagegen kann doch niemand etwas einwenden. Im Kreml und im Weißen Haus wird man kaum eine bessere Terrorprävention sehen. Mittel- und langfristig könnte die Vernichtung der beiden Jihadistengruppen zu einer signifikanten Reduzierung von Anschlägen führen. Ganz nebenbei erledigt man eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einer politischen Lösung.

Und die Bewohner von Aleppo? Unter ihnen wird es noch viele Tote durch russische und syrische Bombenangriffe sowie durch die anhaltenden Kämpfe zwischen Rebellen und Regime geben. Wie schon in so vielen anderen syrischen Städten werden vielleicht erst nach Monaten ein Waffenstillstand und die Lieferung von Hilfsgütern ausgehandelt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Omar al-Shishani
Außenpolitik

IS-Miliz bestätigt Tod ihres Militärchefs

Das Pentagon hatte ein Kopfgeld von 4,5 Millionen Dollar auf Omar al-Shishani ausgesetzt.
Außenpolitik

„Der IS setzt Hunger als Waffe ein“

Für Ralf Südhoff, den Regionaldirektor der UN-Organisation World Food Programme (WFP), hat sich die Nahost-Lage auch dank Berlins Finanzhilfe verbessert.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.