„Der IS bewaffnet bewusst Psychopathen“

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Experte Moniquet über das Profil des Neo-Jihadisten, die Herausforderungen des Antiterrorkampfes und mögliche neue Ziele.

Die Presse: Warum ist Frankreich zum Hauptziel des islamistischen Terrors geworden?

Claude Moniquet: Frankreich ist als einziges Land in Europa wirklich säkular. Es bekämpft seit Jahrzehnten Islamisten – in Algerien, Afghanistan, Mali, im Irak und Syrien. Zudem kommen aus Frankreich verhältnismäßig viele IS-Kämpfer. Und Frankreich hat eine große islamische Community. Die allergrößte Mehrheit französischer Muslime ist nicht radikal, aber statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, in Frankreich eine extremistische Minderheit zu finden, größer als in anderen EU-Ländern. Es ist übrigens kein Zufall, dass ausgerechnet am 14. Juli – dem Nationaltag – zugeschlagen wurde. Das Datum steht für Ideale, die Jihadisten hassen.

Könnten Sie ein Profil dieser jihadistischen Attentäter erstellen?

Ich nenne sie Neo-Jihadisten – eine neue Generation von Extremisten, die sich von ihren al-Qaida-Vorgängern stark unterscheidet. Der Neo-Jihadist wird schneller radikalisiert und ist deshalb gefährlicher: Bei der al-Qaida gehörte eine profunde radikalislamische Indoktrination zur Ausbildung. Der Neo-Jihadist hingegen hat oft nur ein oberflächliches religiöses Wissen. Religion ist nicht der Hauptgrund für seine Radikalisierung, manchmal sogar nur ein Vorwand: Es geht ihm um Rache, um Identitätsfindung, um Frustration – um die unterschiedlichsten Dinge. Der IS-Fanatismus ist persönlicher und daher schwerer fassbar.

Auffallend viele Attentäter der jüngsten Anschläge haben einen kleinkriminellen Hintergrund.

Ja, aber das ist nicht kennzeichnend. Es stimmt, viele sind Kleinkriminelle, einige werden in Gefängnissen radikalisiert. Da bläut man ihnen ein, dass sie nicht wegen ihrer Tat sitzen, sondern weil sie Muslime sind. Aber andere sind gute Schüler oder Studenten, die den sozialen Aufstieg geschafft haben. Dann gibt es, wie im Fall der Anschläge von Dhaka, Jihadisten aus der Oberschicht. Die IS-Propaganda funktioniert bei unterschiedlichsten Personen – beim Underdog wie dem Kind aus der Elite.

Immer mehr Anschläge werden von Einzeltätern verübt. Ist das eine neue Form des Terrors?

Ich glaube nicht an diese Theorie der einsamen Wölfe. Einzig auf den Norweger Breivik trifft diese Definition zu. Der war so einsam, dass er sogar seine eigene Ideologie aufschreiben musste. Aber hinter dem IS-Einzeltäter steckt immer jemand, der ihn motiviert, steuert oder ihm hilft. Die Radikalisierung verläuft übrigens nicht nur über das Netz, wie oft gesagt wird: Der Onlinekontakt ist meist nur der erste Schritt. Es kommt später immer zum direkten Kontakt – über das Telefon oder persönlich.

Wie kann ein Mensch, auch wenn er noch so radikal ist, Kinder absichtlich überfahren?

Meiner Meinung nach hat das nichts mehr mit Ideologie zu tun. Sondern mit Psychiatrie: Solche Taten können nur von Psychopathen ausgeführt werden. Der IS bewaffnet bewusst solche Leute.

Was kann man dagegen tun?

Der IS in Europa ist nicht als Netzwerk organisiert – wie es die al-Qaida war – sondern in einzelnen, kleinen, lokalen Zellen. Das macht den Antiterrorkampf heute noch schwieriger. Es wird nicht ohne strengere Antiterrorgesetze gehen und einer stärkerem Kooperation zwischen den Geheimdiensten.

Der IS verliert immer mehr Territorien, gleichzeitig nehmen die Anschläge in Europa zu. Gibt es einen Zusammenhang?

Einerseits braucht der IS diese Anschläge für Propagandazwecke vor Ort. Durch diese „Erfolge“ in Europa hofft er, in Nahost Muslime zu überzeugen und zu rekrutieren. Anderseits wissen wir, dass immer mehr IS-Kämpfer in ihre europäische Heimatländer zurückkehren – oft mit Anschlagsplänen.

In welchen europäischen Ländern ist die Gefahr am größten?

Neben Frankreich in Großbritannien, dann Deutschland, Belgien, Spanien und den Niederlanden, wegen der vielen IS-Kämpfern aus diesen Ländern. Italien ist wegen des Vatikans gefährdet. Auch andere Staaten, aus denen IS-Kämpfer stammen, sind exponiert – darunter auch Österreich.

ZUR PERSON

Claude Moniquet
arbeitete lang für den französischen Geheimdienst. Er gründete später den Brüsseler Thinktank ESISC, der sich mit Sicherheitsfragen befasst. [ Twitter]

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2016)

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