Kurz: Verhaftungs-Listen schon vor Putsch vorgelegen

Außenminister Sebastian Kurz (re.) im Gespräch mit seinem britischen Amtskollegen und EU-Ministerrats-Neuzugang Boris Johnson.
Außenminister Sebastian Kurz (re.) im Gespräch mit seinem britischen Amtskollegen und EU-Ministerrats-Neuzugang Boris Johnson.REUTERS
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Die EU-Außenminister beschwören die Einhaltung des Rechtsstaats in der Türkei. Ein Land mit Todesstrafe könne nicht EU-Mitglied werden. Am Flüchtlingsdeal soll nicht gerüttelt werden.

Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) hat nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei und dem Vorgehen der Regierung Ankaras gegen Richter seine Forderung nach Einhaltung des Rechtsstaates bekräftigt. "Wer den demokratischen Rechtsstaat nicht achtet und die Todesstrafe einführen möchte, hat definitiv keinen Platz in der EU".

Kurz erklärte nach dem EU-Außenministerrat am Montag in Brüssel, es habe die einheitliche Meinung gegeben, dass zwar einerseits der versuchte Militärputsch zu verurteilen sei, "aber auf der anderen Seite wurde auch eingefordert, dass wirklich alle Kräfte in der Türkei sich zu Rechtsstaat, Demokratie und Grundwerten bekennen müssen".

"Anders nicht erklärbar"

Auf die Frage, ob es für ihn schon eindeutig sei, dass Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Demokratie und Rechtsstaatlichkeit missachtet habe, sagte Kurz, "wenn ich mir die Reaktion nach dem Putschversuch anschaue, habe ich eine sehr klare Meinung dazu. Es sind tausende Menschen verhaftet worden, nicht nur Beteiligte am Putsch, die dem Militär angehören, sondern auch viele Richter, viele Menschen aus der Verwaltung. Und ich glaube, diese Listen, wer da nicht genehm ist, sind schon vorher vorgelegen. Weil anders wäre mir nicht erklärbar, wie Verhaftungen so schnell stattfinden können".

Ob die Türkei noch ein Partner für die EU sein könne? - Der Außenminister meinte, die EU könne sich ihre Nachbarschaft nicht aussuchen. "Aber man muss schon sehr klar für die eigenen Grundwerte eintreten, auch wenn man mit anderen Staaten zusammenarbeitet". Es könne nicht sein, "wegzusehen und Negativentwicklungen einfach zur Kenntnis" zu nehmen. "Dann werden wir am Ende die Leidtragenden sein. Weil die Missachtung von Grundwerten, auch das Abkommen vom Weg des Rechtsstaats, führt am Ende meist zu Destabilisierung und da sind wir die Leidtragenden."

"Je länger der Deal hält, umso besser"

Zum Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei sagte Kurz, das Übereinkommen existiere. "Ich kann nur sagen, umso länger der Deal hält, umso besser ist es. Ich hoffe, dass er sehr lange halten wird". Das bedeute aber nicht, "dass wir unsere Grundwerte aufgeben" und bei Fehlentwicklungen wegsehen. Kurz fügte hinzu, dass "der Hauptgrund für den Rückgang des Flüchtlingsstroms ja eigentlich die Westbalkan-Schließung" war. Er habe immer schon gesagt, dass Kooperationen Sinn machten, "aber wir dürfen uns nicht in Abhängigkeit begeben. Der Außengrenzschutz ist etwas, das Europa selbst schaffen muss. Das können wir nicht an andere delegieren".

Auf die umstrittenen Türkei-Demonstrationen in Wien vom Wochenende angesprochen sagte Kurz, "ich habe absolut kein Verständnis". Wenn jemand in Österreich lebe, solle er dem neuen Heimatland gegenüber loyal sein und auch Respekt vor dem Zusammenleben haben. "Natürlich gibt es die Möglichkeit zum Demonstrieren. Aber die Demonstrationen müssen angemeldet sein und in rechtlichem Rahmen stattfinden".

Kommission hält an Abkommen fest

Die EU-Kommission hält am Flüchtlingsabkommen mit der Türkei vom März fest. Man hoffe, dass die Regierung in Ankara ihre Zusagen genauso wie die EU weiter umsetze, sagte der Chefsprecher der Brüsseler Behörde. Umstritten sind die Voraussetzungen für die vereinbarte Visabefreiung für Türken bei der Einreise in die EU, die unter anderem eine Abmilderung der türkischen Anti-Terror-Gesetze vorsehen.

Auch die deutsche Regierung sah zunächst keine Auswirkungen des gescheiterten Putsches in der Türkei auf das Flüchtlingsabkommen. "Wir sind der Überzeugung, dass das getrennt zu sehen ist", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Die EU werde ihre Zusagen aus dem Abkommen erfüllen. "Wir erwarten das auch von der Türkei."

Komplizierter Tauschhandel

Die EU hat mit dem sogenannten Flüchtlingspakt einen komplizierten Tauschhandel mit der Türkei vereinbart. Die EU darf demnach alle Schutzsuchenden, die seit dem 20. März auf die griechischen Inseln übergesetzt sind, in die Türkei zurückschicken. Ausgenommen sind Asylbewerber, die nachweisen können, dass sie in der Türkei verfolgt werden. Für jeden zurückgeschickten Syrer darf seit dem 4. April ein anderer Syrer aus der Türkei legal und direkt in die EU einreisen.

Im Gegenzug sollte die Visumpflicht für türkische Staatsbürger bei der Einreise in die Türkei ursprünglich ab Juli aufgehoben werden. Dieser Termin hat sich aber verschoben, weil die Türkei noch nicht alle 72 Bedingungen erfüllt hat, darunter die Reform der türkischen Anti-Terror-Gesetze.

Mit Todesstrafe keine EU-Mitgliedschaft

Ein wesentliches Thema für die EU-Außenminister ist die andiskutierte Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini stellte klar: "Kein Land kann EU-Mitglied werden, wenn es die Todesstrafe einführt." Außerdem sei die Türkei als Mitglied des Europarats "gehalten, sich an die Europäische Konvention über Menschenrechte zu halten. Das ist auch ganz eindeutig, so wie bei der Todesstrafe".

Die EU sei zudem die erste Institution gewesen, die gefordert habe, die legitimen Institutionen vor einem Putschversuch zu schützen. "Das darf aber kein Vorwand sein, dass sich ein Land von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit wegbewegt", so Mogherini.

US-Außenminister John Kerry mahnte die türkische Regierung bei dem Treffen in Brüssel, bei der Wiederherstellung von Recht und Ordnung nicht zu weit zu gehen. "Wir rufen die Regierung nachdrücklich dazu auf, ruhig zu bleiben, an der Rechtsstaatlichkeit festzuhalten und die demokratischen Institutionen zu respektieren."

Zudem werde die Nato nun "ganz genau achten, was passiert. Ich hoffe, dass die Türkei das einhält, was sie immer wieder als Rückgrat des Landes angibt". Er habe drei Mal mit dem türkischen Außenminister gesprochen und "er hat ganz und voll die Absicht, die demokratischen Prozesse einzuhalten und die Rechtsstaatlichkeit."

Kern: "Türkei braucht Europa"

Bundeskanzler Christian Kern sagte auf Ö1, dass die Perspektive für den Beitrittsprozess nun in größere Ferne gerückt sei. Die Einführung der Todesstrafe wäre etwa ein Zeichen dafür, dass die Türkei "kein Interesse am europäischen Grundkonsens" habe.

Die Türkei sei für Europa ein wichtiger Bündnispartner in sicherheitspolitischen Fragen und in Fragen der Migrationsbewältigung. Dies könne jedoch keine Einbahnstraße sein, meinte Kern. "Wir brauchen die Türkei aber die Türkei braucht auch Europa. Das bedeutet, dass man demokratiepolitische und rechtsstaatliche Standards einfordern müsse.

Türkei und die Todesstrafe

Zunächst stimmte das türkische Parlament im August 2002 mit 256 zu 162 Stimmen für die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten. Demnach durfte die sie nur noch in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr verhängt werden. Das Votum war Teil eines großen Gesetzespaketes und ein Schritt in Richtung Verfassungsänderung, um die Aufnahmekriterien der Europäischen Union erfüllen zu können. 2004 wurde die Todesstrafe dann gänzlich - auch im Militärstrafrecht - abgeschafft.

Die letzten offiziellen Hinrichtungen in der Türkei fanden 1984 im Gefängnis von Burdur - nach dem Ende der Militärdiktatur - statt. Als Mitglied des Europarats ist die Türkei verpflichtet, an der Abschaffung der Todesstrafe festzuhalten. Die 47 Mitgliedstaaten des Europarates hatten 1983 entschieden, die Todesstrafe abzuschaffen, und das Bekenntnis 2002 um den Zusatz "unter allen Umständen" ergänzt.

(APA/Reuters)

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