München – eine Stadt in Panik und Terrorangst

Die Münchner Innenstadt am Odeonsplatz
Die Münchner Innenstadt am OdeonsplatzAPA/AFP/dpa/SVEN HOPPE
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Ein Amoklauf versetzte München in einen Ausnahmezustand – und weckte zunächst Erinnerungen an den Olympia-Anschlag im Jahr 1972, erst recht im Olympiapark.

Am ersten September-Wochenende und in den lauen Spätsommerwochen danach etablierte sich in München im Vorjahr die später so verteufelte „Willkommenskultur“. Hunderte Hilfsbereite eilten zum Hauptbahnhof, wo anfangs täglich Tausende Flüchtlinge via Balkanroute und der österreichisch-ungarischen Grenze in Deutschland eintrafen, ihrem von Angela Merkel regierten „Sehnsuchtsland“. Die Münchner brachten Wasserflaschen und Teddybären, sie überhäuften die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan mit kleinen Geschenken und praktischen Gaben, mit Jacken und Pullovern. Über Deutschland hinaus machte die Kunde von der Offenheit und Hilfsbereitschaft der Münchner die Runde.

Am Freitagabend, als die Münchner ins Wochenende strömten, zeigte sich am Hauptbahnhof am Rande der Innenstadt ein völlig anderes Bild – Szenen von Chaos, Angst und Panik. Die Polizei evakuierte den Bahnhof, nachdem sich die Alarmstimmung vom Olympiapark im Norden der Stadt aus ins Zentrum ausgebreitet und weitergepflanzt hatte. Diesmal hatte die Aktion, anders als zu Silvester, als der Bahnhof gesperrt worden war, indessen einen realen Hintergrund.

Die U–Bahn steht still

Der U-Bahn-Verkehr stand still, alle Linien waren eingestellt. Zusammengepfercht harrten Tausende Eingeschlossene in den blauen Waggons aus. Die Polizei hatte die Menschen aufgefordert, in den Wohnungen zu bleiben und Straßen und öffentliche Plätze zu meiden. Meldungen über Schüsse am Stachus, am Eingang zur Innenstadt rund um den großen Brunnen, entpuppten sich indes bald als Fehlalarm.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei allerdings schon Terroralarm ausgegeben und Teile der Innenstadt abgeriegelt, darunter den Stachus und den Marienplatz, den zentralen Platz vor dem Rathaus inmitten der geschäftigen Kauffingerstraße. Sirenen heulten durch die Straßen. Die Stadt lag im Ausnahmezustand. Das Zentrum leerte sich rasch nach 19 Uhr, als sich die Nachricht von einem Anschlag im Olympiapark verbreitete. Geschäfte und Lokale sperrten zu – unter anderem auch das Hofbräuhaus. Eine seltsame Ruhe entfaltete sich an einem Freitagabend, an dem sich oft in den Lokalen in Schwabing, im Englischen Garten und in den Biergärten nur schwer ein freier Platz finden lässt.

Um 17.52 Uhr hatte vor einer McDonalds-Filiale im Einkaufszentrum des Olympiaparks im Stadtteil Milbertshofen das Terrordrama in der bayerischen Hauptstadt begonnen, der erste große Anschlag in Deutschland seit Jahrzehnten,der sich nach Mitternacht als Amoklauf eines Einzeltäters herausstellte. Ein dunkel gekleideter Mann fing an, wahllos um sich zu feuern. Es setzte eine regelrechte Menschenjagd ein. In Todesangst flohen Menschen in alle Richtungen.

Polizeiautos und Krankenwagen eilten kurz nach den ersten Notrufen herbei, zuckend blinkten die Blaulichter. Sanitäter bargen und versorgten Verletzte, leisteten erste Hilfe, schleppten Tote fort. Im Laufe des Abends sollte sich die Opferzahl auf neun Tote und mehrere Schwerverletzte erhöhen. Zudem stellte die Polizei eine Leiche sicher, die des Attentäters. Aus lapidaren Polizeibulletins hieß es, dass drei Attentäter, womöglich an unterschiedlichen Orten, ausgeschwärmt seien, um ein Massaker anzurichten – ein Anschlag wie am „schwarzen“ Freitag in Paris, dem 13. November 2015, stand vor Augen. Dies stellte sich im Laufe der Nacht neuerlich als Fehlalarm heraus. Am Ende richtete sich der Einzeltäter, ein 18-jähriger Deutscher-Iraner und offenbar psychisch krank, wie es am Samstag hieß, selbst.

Über dem Einkaufszentrum im Olympiapark und der Innenstadt kreisten am Freitagabend Hubschrauber, an die neuralgischen Orte der Stadt rasten Einsatzwagen; die Krankenhäuser, wie etwa das Klinikum rechts der Isar, waren in Alarmbereitschaft versetzt. Ministerpräsident Horst Seehofer und Innenminister Joachim Herrmann brachen umgehend von ihren Wohnorten nach München auf, um noch in der Nacht auf Samstag eine Krisensitzung abzuhalten. Bundesinnenminister Thomas de Maizière befand sich zu dem Zeitpunkt auf dem Flug in den Urlaub in die USA, entschloss sich jedoch prompt zur Rückkehr. Von Kanzlerin Angela Merkel stand zunächst eine Reaktion aus, sie war womöglich schon auf dem Weg in den Urlaub. Für den Samstag rief Kanzerlamtsminister Peter Altmaier das Krisenkabinett der Regierung im Kanzleramt in Berlin zusammen.

„Schwarzer September“

In München und erst recht im Olympiapark, dem eigens für die Olympischen Spiele 1972 modernisierten Areal – der Stätte des Olympiastadions und des Olympischen Dorfs, die zu Beginn der 1970er-Jahre das Flair einer modernen Urbanität atmete – weckte der Anschlag unter ältereren Münchnern sogleich Erinnerungen an das Attentat im September 1972, wenige Tage nach dem Auftakt der Spiele. München galt damals als Inbegriff der offenen, modernen Stadt „mit dem freundlichen Antlitz“, der "Weltstadt mit Herz", so das Motto der Spiele. Das Image der bayerischen Metropole, die sich gerne zur nördlichsten Stadt Italiens stilisiert, war allerdings schnell dahin.

Gegen halb fünf Uhr früh drang am 5. September ein achtköpfiges Kommando des „Schwarzen September“, einer palästinensischen Terrorgruppe, in den Wohnblock ein, in das Apartment israelischer Sportler. Die Gruppe nahm elf Geiseln, und sie versuchte im Austausch mehr als 200 palästinensische Terroristen in israelischen Gefängnissen sowie Ulrike Meinhof und Andreas Baader, die Köpfe der deutschen Roten Armee Fraktion, freizupressen. Die Verhandlungen mit dem damaligen Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher zogen sich, und bei einem gescheiterten Befreiungsversuch einer Spezialeinheit auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck nahe München, wo eine Fluchtmaschine bereitstand, starben neun Geiseln – nach zwei Israelis zu Beginn der Geiselnahme –, fünf Terroristen sowie ein deutscher Polizist. Über den Olympischen Spielen lag ein Schatten, doch sie gingen nach dem Willen des IOC-Chefs Avery Brundage weiter.

Noch einmal traf ein Terroranschlag das Herz der Stadt: Acht Jahre später verübte ein Rechtsextremist, der 21-jährige Gundolf Köhler, ein Anhänger der Wehrsportgruppe Hoffmann, einen Anschlag aufs Oktoberfest, das größte Volksfest der Welt, bei dem 13 Menschen ums Leben kamen. Der Amoklauf des 18-jährigen Deutsch-Iraners am Freitagabend war seither der schwerwiegendste Angriff auf das zivile Leben und die Liberalität Münchens.

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(Print-Ausgabe, 23.07.2016)

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