"Man konnte nicht einmal zum Friedhof"

The coup attempters hit by bomb Turkish parliament while lawmakers were holding a session in 16 July
The coup attempters hit by bomb Turkish parliament while lawmakers were holding a session in 16 Julyimago/Depo Photos
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Sefariye Ekşis Mann wurde nach dem Putsch gefoltert und erlag seinen Verletzungen. Sie floh nach Deutschland.

Der 12. September 1980 war der 45. Tag ihrer Ehe. In den Morgenstunden stürmten Soldaten die Wohnung von Ekrem und Sefariye Ekşi. Sie waren beide Studenten, aber Ekrem war an der Technischen Universität Istanbul auch Studentenvertreter, ein Aktivist, der auf der schwarzen Liste der Militärs stand. „Die Armee“, sagt Sefariye Ekşi, „hat genau gewusst, wer wo aktiv ist. Sie haben sich vorbereitet.“

Über einen Monat lang verbrachte Ekrem in Polizeigewahrsam. Er wurde gefoltert, vermutete die Familie, und als er später schwer verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, sahen sich seine Angehörigen in ihrer Vermutung bestätigt. Im Spital erlag Ekrem Ekşi seinen Verletzungen. „Die Polizei sagte, er sei die Treppen hinuntergefallen. Wie haben sie angezeigt, und sie haben sechs Monate bekommen. Wegen Verletzung der Aufsichtspflicht.“ Ob die Beamten tatsächlich ins Gefängnis mussten – das weiß Sefariye Ekşi bis heute nicht.

Als die Soldaten ihren Mann abholten, war sie nicht zu Hause. Sie saß selbst in U-Haft, denn bei einer Kontrolle waren Broschüren der Gewerkschaft in ihrer Tasche entdeckt worden. Ekşi erfuhr Gewalt und Erniedrigung. Fünf Jahre nach dem Coup verließ sie schließlich die Türkei, „es war mir nicht möglich“, sagt Ekşi, „dort ein normales Leben zu führen. Man konnte nicht einmal zum Friedhof gehen.“ Heute lebt die Finanzbuchhalterin in Köln. In Deutschland fand Ekşi eine solidarische Atmosphäre vor: Institutionen und Zivilgesellschaft verurteilten den Putsch, unterstützten die politischen Flüchtlinge.

„Man muss immer gegen eine Militärjunta sein, gegen jeden, der mit Waffengewalt an die Macht kommt“, sagt Ekşi mit Blick auf die Ereignisse der vergangenen Woche. Parallelen zu damals sieht sie aber wenige. Vor vierzig Jahren habe die Gewaltwelle in erster Linie die Arbeiterbewegung betroffen, und die Ausmerzung der Gewerkschaften sei bis heute zu spüren, da nur ein kleiner Teil der Arbeitnehmer organisiert ist. Stattdessen hätten sich später viele religiöse Institutionen gründen können, und hier sieht Ekşi die Wurzel der aktuellen Probleme in der Türkei: „Heute bekämpfen sich zwei Pole innerhalb der islamischen Bewegung. Erdoğan führt das Land Richtung autoritäres Regime.“

Vergangene Woche sind Hunderte Schulen geschlossen worden, die dem Prediger Fethullah Gülen nahestehen sollen. Auch die Generäle, die den Putsch planten, sollen aus der Gülen-Bewegung kommen, das verkündete zumindest die türkische Regierung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2016)

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