An den Aleviten wurde in den 1970ern in der Türkei ein Massaker begangen. Mehmet Ali Çankaya überlebte und kritisiert heute den Putschversuch und Erdoğan.
Schon als Kind wurde Mehmet Ali Çankaya (54) eingebläut, seine Identität zu verheimlichen. Seine Eltern schickten ihn in Anatolien sogar in eine Koranschule, nur damit die Familienmitglieder unter den mehrheitlich strenggläubigen Sunniten nicht als Aleviten enttarnt wurden. Als religiöse Minderheit hat man es auf dem Land in der Türkei bis heute nicht leicht.
Anfang der 1970er zog dann die Familie nach Istanbul, um sich in die Anonymität der Großstadt zu flüchten, aber die Situation wurde nicht besser. In einer tief in rechts und links gespaltenen Gesellschaft musste die alevitische Glaubensgemeinschaft oft als Sündenbock herhalten. So auch am 19. Dezember 1978, als eine Schockgranate in einem Kino in Maras explodierte. Es wurde zwar niemand ernsthaft verletzt, die Tat wurde aber den Aleviten in die Schuhe geschoben. Daraufhin folgte ein siebentägiges Massaker, bei dem mehr als 100 Angehörige der alevitischen Glaubensgemeinschaft ums Leben kamen.
Die Unruhen setzten sich in anderen Provinzen fort, es wurde der Ausnahmezustand verhängt. „Ich war damals in Istanbul und bin mit Studenten und Schülern demonstrieren gegangen“, erzählt Çankaya. „Abertausende von uns wurden festgenommen“, erinnert er sich. Er selbst saß damals als 16-Jähriger etwa drei Monate im Gefängnis – manche bis zu einem Jahr, bis sie wieder freigelassen wurden.
Gescheitert. „Von diesem Moment an waren wir nicht mehr sicher“, sagt er. Er habe jede Nacht woanders geschlafen, im Gebüsch oder bei Freunden. Das politische Klima war aufgeheizt, die Gesellschaft gespalten. Die Politik konnte das alles trotz Bemühens nicht mehr zusammenhalten. „Wir wussten, es wird bald einen Putsch geben – und als uns dann eines Tages zwei Soldaten aufhielten, wussten wir, es ist passiert.“ Das Militär versprach, wieder für eine Trennung von Religion und Staat zu sorgen, die Unruhen in den Griff zu bekommen. „Aber sie haben es nicht getan, sondern selbst geherrscht und Unruhe gestiftet“, erzählt er. Cankaya, der immer studieren wollte, wurde nicht an der Universität zugelassen. „Tausende Professoren, Intellektuelle und all jene, die ihre Meinung sagten, wurden verhaftet“, sagt er. „Wie jetzt.“
1982 flüchtete er dann nach Österreich. „Zuerst mochte ich Österreich nicht, fühlte mich abgelehnt, aber ich lernte dieses Land wegen seiner demokratischen politischen Kultur zu schätzen“, sagt Çankaya, der heute Vorstand der Alevitischen Föderation in Österreich ist und im Gastgewerbe arbeitet.
Weiterwirken in Europa. „Ein Putsch ist nichts Gerechtes, nichts Gutes, weil er die Menschenrechte mit Füßen tritt“, sagt Çankaya zu den Ereignissen in der Nacht vom 15. Juli 2016. „Aber das, was Präsident Erdoğan macht, ist auch ein ziviler Putsch und nicht Demokratie“, sagt er. Demokratie dürfe sich nur nennen, wo Meinungen akzeptiert werden, wo Vielfältigkeit bestehen dürfe. „Und das ist nicht so. Er denkt über die Todesstrafe nach. Er verhaftet oppositionelle Politiker und all jene, die anderer Meinung sind.“ Dazu trenne Erdoğan nicht mehr zwischen Religion und Staat; er sei der Präsident der sunnitischen Muslime und für andere nicht da.
Und auch in Österreich würde Erdoğan weiterwirken: „Er hat hier seine Organisationen, die er aufgerufen hat, ihn zu unterstützten. Und nun werden sie all jene, die unangenehm sind, an die Türkei melden.“ Erste Fälle der Denunziation gebe es schon.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2016)