Sollen, dürfen oder müssen radikalisierte Verdächtige präventiv eingesperrt werden? Die Konservativen wollen strenge Maßnahmen und werfen der Regierung Versagen vor.
Paris. Frankreich ist schockiert über das jüngste Attentat, über den symbolischen Ort, die Kirche von Saint-?tienne-du-Rouvray, und das Opfer, einen 86-jährigen Priester. „Nie hätten wir gedacht, dass der Terrorismus des IS bis zu uns kommen könnte“, sagte eine Bewohnerin des Ortes in der Normandie. Noch weniger hatte sie sich wohl vorgestellt, dass einer der beiden Angreifer, der erst 19-jährige Adel K., der Sohn des Nachbarn war. Schnell war den Medien bekannt, dass er im Vorjahr zwei Mal vergeblich versucht hatte, nach Syrien zu reisen, und dass er der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung mit terroristischen Zielen angeklagt war und deshalb in Untersuchungshaft saß.
Wie war es möglich, dass ein wegen seiner Radikalisierung und jihadistischer Absichten hinlänglich bekannter junger Mann seit dem 22. März auf freiem Fuß war und so die Möglichkeit hatte, am Wohnort der Eltern zuzuschlagen? Dies sorgt für viel Empörung und nährt die Vorwürfe an die Justiz und die Staatsführung. Die Opposition zögert nicht, diese Stimmung mit wahlpolitischen Hintergedanken für sich zu instrumentalisieren.
Versagen der Justiz
Hat die Justiz in diesem Fall jämmerlich versagt, wie die Kritiker sagen? Heute weiß man, dass es Adel K. gelungen war, die Antiterror-Untersuchungsrichterin von seiner Reue zu überzeugen. Die Staatsanwaltschaft widersetzte sich seiner Freilassung in einen strikten Hausarrest, doch das Pariser Berufungsgericht sah keinen hinreichenden Grund, ihn bis zu seinem Prozess als imminente Gefahr in Haft zu behalten. Der Staat also hat wenigstens ein Alibi. Zudem war seine Entlassung mit einer strikten polizeilichen Kontrolle und Meldepflicht verbunden: Er musste eine elektronische Fußfessel tragen, seine Ausweispapiere abgeben und durfte die Wohnung in Saint-?tienne-du-Rouvray nur am Vormittag zwischen 8.30 und 12.30 Uhr verlassen.
Mit diesen Auflagen gelang es zwar, ihn daran zu hindern, sich dem Jihad in Syrien oder im Irak anzuschließen – wie mehrere bekannte französische Jihadisten aus dieser Region um Rouen. Die Planung und Ausführung eines Angriffs auf das christliche Glaubenssymbol in seinem Wohnort konnte indes nicht verhindert werden.
Das Attentat und der Hintergrund des Täters stellen die Sicherheitspolitik und den Umgang der Behörden mit ihnen bekannten Sympathisanten des Jihadismus zur Debatte. Die Opposition scheut sich nicht mehr, dies als Skandal der Staatsführung auszuschlachten. Von der breiten Solidarität nach dem Angriff auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ und der Attentatsserie im November ist nach dem Anschlag auf eine Kirche definitiv nichts mehr übrig. Die Opposition wirft der Regierung Versagen vor.
Sarkozys Angriff
Obwohl Ex-Präsident Nicolas Sarkozy aus seiner früheren Erfahrung als Innenminister um die Schwierigkeiten im Kampf gegen Terrorverdächtige weiß, fordert er die Führung in Paris auf, dem Volk „die Wahrheit“ zu sagen – womit er suggeriert, dass etwas verheimlicht werde. Am Tag des Attentats hatte er bereits erklärt: „Die juristischen Spitzfindigkeiten, die Vorsichtsmaßnahmen und Vorwände zur Rechtfertigung des Ungenügens sind nicht zulässig.“ Wie viele seiner Parteikollegen verlangt er, dass vor allem besonders gefährliche Verdächtige – auch wenn diese noch kein Delikt oder Verbrechen begangen haben – eingesperrt oder interniert werden.
Der Vorschlag klingt zwar plausibel, wäre in Frankreich aber klar verfassungswidrig. Schon die Notstandsgesetze setzen gewisse individuelle Bürgerrechte teilweise außer Kraft. Weiter will die Regierung nicht gehen. Innenminister Bernard Cazeneuve belehrte darum Sarkozy ziemlich scharf: „Das Respektieren der Verfassung ist keine juristische Spitzfindigkeit.“
Präsident François Hollande erklärte ebenfalls: „Wir werden die Bürger mit den Waffen des Rechtsstaates beschützen.“ Diese erscheinen aber vielen seiner Landsleute nicht mehr ausreichend, und die Opposition bestärkt sie in dieser Meinung.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2016)