Syrien: „Es gibt nur noch Trauer und Angst“

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TOPSHOT-SYRIA-CONFLICT-ALEPPO(c) APA/AFP/GEORGE OURFALIAN (GEORGE OURFALIAN)
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Der Belagerungsring um Aleppo hat sich völlig zusammengezogen. Russland und das Assad-Regime wollen die Menschen in der umzingelten Stadt zu Flucht und Kapitulation zwingen.

Kairo/Damaskus. Ihr wichtigstes Kriegsziel haben die Präsidenten Russlands und Syriens, Wladimir Putin und Bashar al-Assad, nie aus den Augen verloren – die Rückeroberung der strategisch bedeutsamen nordsyrischen Stadt Aleppo. Bisweilen mussten sie ihre Offensive durch kurze, von Washington erzwungene Feuerpausen unterbrechen. Mitte Juli war es dann so weit, als es Syriens Regime mithilfe Russlands gelang, die letzte Nachschubstraße zu kappen und die Rebellenviertel der zweitgrößten Stadt Syriens komplett von der Außenwelt abzuschneiden.

Seither versuchen ihre Militärplaner, Panik unter den Eingeschlossenen zu schüren. Hubschrauber warfen Tausende Plastikbeutel mit Marmelade, Tee und Zucker ab, zusammen mit Flugblättern, die die Bewohner auffordern, ihre Stadtbezirke zu verlassen. Drei Fluchtrouten für Zivilisten sowie eine für bewaffnete Rebellen sind auf den Zetteln markiert, die alle auf Territorien des Regimes enden.

Russlands Verteidigungsminister, Sergej Schoigu, etikettierte das Ganze als „groß angelegte humanitäre Operation“, während Damaskus allen Kämpfern Amnestie zusicherte, wenn sie sich ergeben und ihre Waffen aushändigen. Die meisten jedoch trauen dem Regime nicht und fürchten, eine Kapitulation mit Gefängnis oder Tod zu bezahlen. „Rausgehen oder nicht – jede Minute diskutieren wir darüber“, zitierte die „New York Times“ den örtlichen Fotografen Luay Barakat. Russland und Assad wollten der internationalen Gemeinschaft lediglich Sand in die Augen streuen, argwöhnte ein anderer Aktivist. Für die eingeschlossenen Menschen aber bedeute diese Ankündigung, „dass uns das Schlimmste noch bevorsteht“.

Rebellen verlieren Vororte

Assad triumphiert – eine Rückeroberung Aleppos ist in greifbare Nähe gerückt. Den Rebellen dagegen droht eine verheerende Niederlage, die eine entscheidende Wende in dem mehr als fünfjährigen Bürgerkrieg bedeuten könnte. Das Regime bräuchte nicht mehr ernsthaft über eine Teilung der Macht zu verhandeln.

Anfang der Woche verloren die Verteidiger zwei weitere Vororte an die Regierungstruppen. Eine Rückeroberung der lebenswichtigen Castello-Straße ist inzwischen illusorisch. Mitte der Woche konnte das Regime auf dem Nachschubkorridor zur türkischen Grenze erstmals wieder eigene Kontrollpunkte installieren. Der Straßenbelag ist durch den Bombenhagel so stark zerstört, dass ihn normale Autos, geschweige denn Lastwagen mit Lebensmitteln und Medikamenten nicht mehr befahren können.

„Es ist ein Desaster, das die Menschen in Aleppo in jedem Winkel ihres Lebens trifft“, zitiert die Website Syria direct den lokalen Reporter Ammar al-Halabi. Die Lebensmittelpreise steigen ins Astronomische. Auf den Märkten häufen sich die Handgemenge. Frisches Obst und Gemüse ist praktisch nicht mehr zu bekommen, während die syrische und die russische Luftwaffe die Wohnviertel rund um die Uhr bombardieren.

Allein in dieser Woche wurden vier weitere Kliniken beschädigt. Die Berichte von Mitarbeitern seien entsetzlich, so die Organisation Ärzte ohne Grenzen, deren letzte Hilfslieferung Ende April die stark zerstörte Stadthälfte erreichte. „Wenn die Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen nicht aufhören, wird es im Osten Aleppos bald keinerlei medizinische Versorgung mehr geben.“ Der Zivilschutz beschwöre die Familien, „in den Häusern zu bleiben und die Lichter zu löschen“, berichtet Abdelkareem al-Omar, Helfer aus dem Stadtteil Atareb. „In Atareb gibt es kein Leben mehr“, sagt der 28-Jährige. „Nur noch Trauer und Angst.“

Al-Nusras taktischer Schachzug

Derweil gab die jihadistische Rebellenfraktion al-Nusra-Front bekannt, ihre Verbindung zur al-Qaida-Führung in Afghanistan offiziell zu kappen und sich in „Syrische Eroberungsfront“ („Jabhat Fateh al-Sham“) umzubenennen. Als Begründung erklärte Kommandant Abu Mohammed al-Jolani in einer Videobotschaft, er wolle den USA und Russland den Vorwand nehmen, weiterhin die Stellungen seiner Einheiten zu bombardieren.

Der Schritt, der sich seit Tagen ankündigte, ist primär ein taktischer Schachzug, zumal al-Jolani damit keine ideologische Neuausrichtung verknüpfte. Der Chef des US-Inlandsgeheimdienstes, James R. Clapper, sprach von einer PR-Aktion. Die Jihadisten wollten nur mehr moderate Kämpfer anlocken und weniger Luftangriffe auf sich ziehen. Die al-Nusra-Front, die schätzungsweise bis zu 10.000 Kämpfer hat, ist wie der Islamische Staat (IS) von der im Februar ausgerufenen internationalen Waffenruhe in Syrien ausgeschlossen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2016)

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