Ukraine: Der vergessene Krieg im Osten

Alles nur zur Übung? Ukrainische Soldaten schauen während eines Militärmanövers im Gebiet Riwne Sukhoi-Kampfjets nach.
Alles nur zur Übung? Ukrainische Soldaten schauen während eines Militärmanövers im Gebiet Riwne Sukhoi-Kampfjets nach.(c) REUTERS (STRINGER)
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Die neuen Spannungen zwischen Russland und der Ukraine auf der Krim werfen ein Schlaglicht auf den ungelösten Konflikt im Donbass. Dort flammen die Kämpfe seit einiger Zeit wieder auf. Die Angst vor einem großen Krieg geht um.

Sie sind Gestrandete des Krieges, jene Handvoll Menschen, die sich am Rande der ostukrainischen Großstadt Donezk in einem Luftschutzbunker eingefunden haben. Sie schlafen auf Holzpritschen, kochen auf einem tragbaren Elektroöfchen. Hier, in der drückenden Luft des Kellers, harren sie aus und warten. Wie lange noch, wissen sie nicht. „Man hat uns vergessen“, klagt eine ältere Frau mit braunem Kurzhaarschnitt, deren Füße in klobigen Lederschuhen stecken. In ihre Wohnung wagt sie sich nicht zurück, auch wenn die Einschläge im Bezirk Petrowskij mittlerweile selten geworden sind. Geld, das zur Reparatur ihrer teilzerstörten Wohnung nötig wäre, hat sie nicht. Die Rente reicht gerade zum Überleben.

Schicksale wie jenes der Donezker Rentnerin gibt es im Donbass zuhauf. Fast täglich sterben trotz des vereinbarten Waffenstillstandsabkommens im Konfliktgebiet Menschen. Doch nur ab und zu kommt der Konflikt zwischen ukrainischer Armee und den von Russland unterstützten Separatisten in die Medien. Wenn etwa, wie am vergangenen Samstag, das Auto des Luhansker Separatistenführers, Ihor Plotnitzkij, in die Luft gejagt wird. Plotnitzkij überlebte mit Verletzungen.

Schuld und Sühne. Während man in Luhansk und in Russland sicher war, dass Kiew hinter der Attacke stecke, deutete man in der Ukraine den Anschlag als möglichen Vorwand für eine Offensive der Gegenseite. Ähnlich verhält es sich nun mit dem viel gefährlicheren Vorfall auf der Krim: Der russische Geheimdienst will eine Gruppe von Saboteuren ausgehoben haben, die im Auftrag des Verteidigungsministeriums Anschläge auf Tourismusinfrastruktur geplant hätten. Zwei russische Sicherheitskräfte starben bei Schusswechseln. Russlands Präsident Wladimir Putin drohte den ukrainischen Behörden, ihren Tod nicht ungesühnt zu lassen. Kiew bestreitet alles und vermutet, dass die Vorgänge als Vorwand für eine russische Offensive im Osten dienen sollen.

Schuldzuweisungen und Gerüchte statt Besonnenheit und Aufklärung: Das ist das gefährliche Gemisch, aus dem Kriege entstehen; oder durch welches bestehende Konflikte wie der im Osten der Ukraine nicht gelöst werden.

Die Intensität der Gefechte im Donbass hat sich zuletzt erhöht, und weil die Schusswechsel in besiedeltem Gebiet stattfinden, steigt auch die Zahl der Opfer: In einem aktuellen Bericht meldet die UNO, dass die Zahl der zivilen Opfer mit zwölf Toten und 57 Verletzten im Juni 2016 fast doppelt so hoch war wie im Vormonat. Im Juli gab es gar 73 zivile Opfer, acht Tote und 65 Verletzte – die höchste Zahl seit August 2015. Mehr als zwei Jahre nach Ausbruch des bewaffneten Konflikts haben sich die Menschen in einem Dauerprovisorium zwischen Krieg und Frieden eingerichtet – vor allem die Bewohner entlang der 500 Kilometer langen Frontlinie sind zum Großteil auf sich allein gestellt (s. Interview unten).

Putin erklärte unmittelbar nach dem Krim-Vorfall, hochrangige Treffen von Vertretern Russlands, der Ukraine, Frankreich und Deutschland seien in einer Situation wie der aktuellen „sinnlos“. Das russische Außenministerium versendete tags darauf ein aufschlussreiches Kommuniqué, das einen Zusammenhang zwischen der Krim und dem Donbass herstellt. Der Westen, heißt es darin, solle seine „ukrainischen ,Schützlinge‘ endlich zwingen, die permanenten Provokationen einzustellen und ihre Verpflichtungen im Sinne der Minsker Vereinbarungen zur politischen Regelung in der Ukraine zu erfüllen.“ Kurz gesagt: Der Westen müsse Kiew „unter Druck setzen“. Ist das die Lehre aus dem Krim-Vorfall?

Fakt ist: Im Westen macht sich so oder so Frust über das mangelnde Vorankommen in Minsk breit. In der idealen Welt der Konfliktlöser würde Russland Druck auf die Separatisten ausüben, und der Westen würde auf Kiew einwirken. Nur geht diese Formel nicht auf. Die Widerstände auf beiden Seiten sind zu groß. Seit Februar 2015 sucht eine Arbeitsgruppe in regelmäßigen Treffen nach Lösungen. Doch nicht einer der 13 Punkte des Minsker Abkommens ist bislang vollständig umgesetzt: Waffen, die längst abgezogen sein sollten, sind weiter in Verwendung. Der Austausch von Gefangenen kommt nicht in Gang. Ein Vorankommen bei haarigen politischen Punkten, wie Lokalwahlen in den abtrünnigen Gebieten, ist nicht zu erkennen.

In der Ukraine ist die Bereitschaft für eine Umsetzung des Minsker Abkommens gesunken. Die Regierung setzt auf Verzögerung. Stimmen, die nach einer kompletten Abschottung der abtrünnigen Gebiete rufen, finden zunehmend Gehör. Moskau wiederum hat kein grundsätzliches Interesse, den Konflikt zu lösen. Zwar tut der russische Präsident Wladimir Putin nach wie vor so, als hätte er keinen Einfluss auf die Separatisten. Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass Russland Waffen und Personal über die Grenze in die Volksrepubliken schleust. Die Gebiete hängen fast komplett am Tropf des russischen Staates. Als „beste schlechteste Lösung“ nennt ein aktueller Bericht der International Crisis Group in Brüssel das Einfrieren des Konflikts durch die Kriegsparteien. Doch selbst die dafür benötigte Bereitschaft zur relativen Ruhe scheint derzeit zu fehlen.

Tägliches Risiko. Alexander Hug weiß um die täglichen Risken im Konfliktgebiet. Der Schweizer ist Vize-Chef der Special Monitoring Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). 590 unbewaffnete Beobachter überwachen im Konfliktgebiet die Einhaltung des Minsker Abkommens, das eigentlich Waffenruhe garantieren soll. Hug muss seit Monaten zusehen, wie sich die Vorfälle gegen seine Beobachter häufen. Der Schweizer machte in der Vergangenheit deutlich, dass ein Großteil der Behinderungen von den Separatisten ausgehe.

Doch auch auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet kommt es zu Zwischenfällen. In der Vorwoche richtete an einem Checkpoint der ukrainischen Armee ein Mann, auf dessen Militärkleidung kein Hoheitsabzeichen zu sehen war, sein Gewehr auf einen Beobachter und bedrohte diesen. „Wir werden diese Art von Risken nicht akzeptieren“, sagte Hug bei seiner wöchentlichen Pressekonferenz. Hug weiß, dass sich ein solcher Zwischenfall jederzeit wiederholen kann.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2016)

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