Frankreich: Urlaub am Ort des Schreckens

Gedenken an die Opfer des Anschlags auf der Promenade des Anglais.
Gedenken an die Opfer des Anschlags auf der Promenade des Anglais.(c) APA/AFP/JEAN CHRISTOPHE MAGNENET
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Frankreich rüstet sich für den Höhepunkt der Feriensaison und verschärft in Touristenzentren die Polizei- und Militärpräsenz. In Nizza patrouillieren schwer bewaffnete Trupps an der Promenade des Anglais, ein Mahnmal erinnert an das Attentat.

Nizza. Unter der Sonne des Südens sind die Blumen längst verdörrt, die zahllosen Sonnenblumen und Rosen, die Sträuße hinter der Plastikhülle, die auf einem Kreuz drapierten Nelken und weißen Rosen an der Strandpromenade. 50 Meter zieht sich das von Barrikaden abgeschirmte, das übervoll von Plüschtieren, Teelichtern, Steinen, Fotos, Gebeten, Zeichnungen und Notizen gesäumte Mahnmal für die mittlerweile 85 Terroropfer an der Promenade des Anglais in Nizza, die der Tunesier Mohamed Lahouaiej Bouhlel auf seiner Zickzackfahrt unter seinem Leih-LKW begraben hat.

Einer schrieb sich seine Trauer und Betroffenheit von der Seele: „Welch Schmerz, welch Hass. Warum?“ Ein Michel Potay übt sich als Philosoph: „Wir wissen, dass der Mensch über das Böse triumphiert.“ Marie-Antoinette Mourot, eine Mutter, verfasste eine Eloge auf Nizza, auf die „Stadt der Blumen“; die zehnjährige Lea hat auf dem Asphalt ein weißes Herz für ihre Freundin Fatima gemalt und davor einen Zettel hingelegt mit der Botschaft „Terrorismus ist keine Religion“.

Omnipräsent. „Nissa issa“, „Immer Nizza“, lautet im provenzalischen Dialekt der Tenor des Gedenkens in der Hauptstadt der Côte d'Azur noch ein Monat danach. Darin schwingt ein Credo mit, das die angeschlagene Psyche der Nation aufrichten soll: „Wir lassen uns nicht unterkriegen.“

Oder, wie es einer formuliert: „Nur Mut, süßes Frankreich.“ Der Putsch in der Türkei, bloß 24 Stunden nach dem Massaker von Nizza, hat das Attentat am Abend des französischen Nationalfeiertags, nach dem Ende des obligaten Feuerwerks mit kaltblütiger und von langer Hand geplanter Perfidie ausgeführt, schlagartig aus den Schlagzeilen der Welt verdrängt. In Frankreich sind die Folgen indes omnipräsent. Mit Sturmgewehr im Anschlag, in gefleckter Kampfuniform, mit gepanzerter Weste und rotem Barett streifen Militärtrupps zu je vier Mann über den vor Nachtschwärmern wuselnden Blumenmarkt von Nizza mit seinen Restaurants, sie patrouillieren über die sieben Kilometer lange Promenade des Anglais, die Flaniermeile der Stadt.

An der „Prom“ spielt sich das öffentliche Leben Nizzas ab: Es ist das pulsierende Zentrum, ein Laufsteg der Eitelkeiten. Hier spulen Jogger und Radfahrer ihre Kilometer ab, hier frönen Jung und Alt dem Boccia mit den klackenden Kugeln im Sand, und hier aalen sich Tausende Touristen mit ölig-glänzenden Leibern am Steinstrand. Nur wenige halten indes inne vor den improvisierten Gedenkstätten an der Promenade. Die Party geht weiter, wenngleich auch verhalten, unter den weißen Zelten des Strandklubs des Beau Rivage. Musiker, Straßenhändler und Porträtmaler sorgen längst wieder für Kurzweil, und russische Touristen posieren für ein Selfie vor dem Negresco, dem legendären Luxushotel.

Über das Grauen reden. Urlaub machen am Ort des Schreckens; sich vergnügen, wo so viel Blut geflossen ist – geht das? Luc Fregaud klärt Chloe, seine siebenjährige Tochter, so einfühlsam als möglich über das Grauen auf – und kauft ihr hinterher ein Eis.

Zum Höhepunkt des Sommers, dem langen Ferienwochenende rund um den 15. August, an dem überall im Land Feste über die Bühne gehen, hat Frankreich die Sicherheitsvorkehrungen noch einmal verstärkt. An den Grenzen, in den Touristenzentren zeigen die Sicherheitskräfte durchaus martialisch ihre Präsenz, selbst an den Stränden tummeln sich Polizeikräfte in kurzen Hosen und mischen sich unter die Urlauber. Ein weiterer schwerer Anschlag mitten in der Hochsaison würde das Land wohl zerreißen. Das linksliberale Blatt „Liberation“ hob schon die Zeile von den „zerbrochenen Ferien“ auf seinen Titel.

Der Tourismus sei um zehn Prozent eingebrochen, klagt die Gastronomie. Aus Sicherheitsgründen hat Nizza bereits Großereignisse wie die Rad-EM und den Flohmarkt im Spätsommer abgesagt. Die Regierung hofft indessen, dass sich nach dem Sommer die Wut im Land wieder legt. Als Premier Manuel Valls unmittelbar nach dem Attentat zu einem Solidaritätsbesuch nach Nizza kam, empfingen ihn lauthals Buhrufe.

Auf Tauchstation. Seither ist die Politik großteils auf Tauchstation gegangen, sie macht im August traditionell Pause. Die Sozialisten haben sogar ihre Parteikonferenz in La Rochelle, die üblicherweise Ende August das Ende der Polit-Ferien einleitet, abgesagt. Präsident François Hollande ließ sich nur kurz bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Rio auf der Ehrentribüne blicken, während Nicolas Sarkozy, sein Vorgänger und Nachfolger in spe, auf Urlaubsfotos gute Laune verbreitet. Darauf – und auf harte Sprüche – hat sich der dynamische Konservative schon als Präsident gut verstanden.

Alle in den Schatten stellt hingegen Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, lange ein Protegé Hollandes und nun insgeheim ein Widersacher. Vor wenigen Monaten hat der 38-Jährige – sehr zum Unmut von Hollande, Valls und Co. – eine eigene Bewegung ins Leben gerufen: „En Marche“. Seither reißen die Spekulationen über eine Präsidentschaftskandidatur des unabhängigen Politikers im kommenden April nicht ab. Auf dem Cover der Illustrierten „Paris Match“ ließ er sich mit seiner Frau Brigitte, seiner ehemaligen Lateinlehrerin, in bester Sarkozy-Manier ablichten: er in Poloshirt und Badeshorts, sie im Badeanzug am Strand. „Liebesurlaub vor der Offensive“, titelte das Magazin.

In Nizza flanieren unterdessen zu mitternächtlicher Stunde noch Hunderte über die Promenade des Anglais, und in kleinen Gruppen scharen sie sich am Strand, starren auf die Wellen, in den Nachthimmel oder auf ihre Handys, in der Hoffnung, dass alles ruhig und friedlich bleiben möge.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2016)

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