Bürger im Donbass: „Wer sind wir überhaupt?“

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Ukraine(c) imago/Xinhua (imago stock&people)
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Informationen aus den Separatistengebieten sind Mangelware. Ein deutsches Institut befragte Menschen auf beiden Seiten der Front zu ihrer Einstellung. Verbindendes Element: Angst und Müdigkeit.

Kiew/Wien. Zuverlässige Informationen aus den abtrünnigen Gebieten in der Ostukraine, die vor mehr als zwei Jahren zu sogenannten Volksrepubliken unter russischer Schirmherrschaft ausgerufen wurden, sind selten. Die Frontlinie trennt nicht nur die Stellungen der Kriegsparteien – ukrainische Armee und prorussische Separatisten –, sie trennt auch Informationswelten. Was auf der jeweils anderen Seite der Front passiert, ist Gegenstand von Falschmeldungen und Gerüchten. Und wie die lokale Bevölkerung im Donbass – sowohl auf ukrainisch kontrollierter Seite als auch im abtrünnigen Territorium – über ihre jeweiligen politischen Vertreter denkt, ist nur schwer fassbar.

Ungefilterte Einsichten in die andere Realität sind selten. Aber zuweilen gibt es sie. Mitte Juli versammelten sich Kleinunternehmer in der von Separatisten kontrollierten Stadt Horliwka zu einem spontanen Protest vor der Stadtverwaltung. „Kommt raus, kommt raus“, schrieen etwa 500 aufgebrachte Bürger. Sie verlangten Aussprache. Anlass war die drastische Erhöhung von Abgaben, die von den Betroffenen als Geldabpressung erlebt wurde. Würde dies in die Tat umgesetzt, würden sie innerhalb eines Monats bankrottgehen, erklärten die Händler.

Horliwka ist eine Stadt an der Front, die unter ukrainischem Beschuss viel gelitten hat. Fragte man dort nach der Haltung zur Kiewer Regierung, erntete man größtenteils ablehnende Reaktionen. Die Demo könnte ein Indiz dafür sein, dass die Unzufriedenheit mit den neuen Herren ebenfalls steigt. Die Gesetze sollten wieder „wie in der Ukraine“ sein, forderte ein Mann vor laufender Kamera. Eine Frau stellte eine Frage, die vielen im Kopf kreist: „Wer sind wir überhaupt? Weder Ukraine noch Russland, wer sind wir?“

Wohin die Bewohner der Konfliktgebiete eigentlich gehören und wie sich ihre Identität durch den zweijährigen Krieg verändert hat, erkundet eine eben veröffentlichte Umfrage. Sie wurde für den ukrainischen Thinktank Donbas vom deutschen Umfrageinstitut Ifak mit Unterstützung des National Endowment for Democracy und der Renaissance-Stiftung durchgeführt. Umfragen, die Einstellungen der Bevölkerung im Konfliktgebiet messen, sind heikel, werden ihre Ergebnisse doch allzu gern politisch instrumentalisiert. Ifak gibt an, Interviews mit mehr als 1400 Menschen auf beiden Seiten durchgeführt zu haben.

In Kiew registrierte man erfreut, dass in Bezug auf Jobchancen, Lebensmittelpreise und Sozialleistungen die Donezker Volksrepublik (DNR) bei ihren eigenen Bewohnern ziemlich schlecht abschnitt; die Mehrzahl gab an, die Lage in den „kontrollierten Gebieten“ sei besser. Nur 18 Prozent der Menschen auf Separatisten-Territorium definieren sich als DNR-Bürger. Wie die Auftraggeber der Studie besorgt notieren, werden sich Einstellungen zwischen den Bürgern der getrennten Gebiete wohl vertiefen. Der Anteil jener, die sich als „anders“ als Ukrainer und Russen beschreiben, ist mit 31 Prozent in der DNR sehr hoch – da ist sie wieder, die Frage: „Wer sind wir?“ Was die Bürger dies- und jenseits der Frontlinie eint, ist die stark ausgeprägte regionale Identität, Angst um die persönliche Sicherheit und – ein Gefühl der Ermüdung.

Web:www.diepresse.com/donbassstudie

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.08.2016)

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