Der Spießer dreht den Spieß um

Symbolbild.
Symbolbild.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Einst galten Revolutionsgegner und konservative Kleinbürger als Spießbürger, heute richtet sich der mittelalterliche Begriff auch gegen Grüne oder apolitische Junge. Über den politisch vielsagenden Wandel eines Wortes.

Spießer wählen AfD, echte Kerle NPD", verkündet die deutsche rechtsextreme NPD auf Wahlplakaten. Der Spießer - richtiger, der als solcher Bezichtigte - kann heute fast jede politische Couleur annehmen. Spießig seien die Mittzwanziger, heißt es, so bieder, so angepasst und eingeigelt ins Private. Brave linke Öko-Spießer sprießen angeblich seit Langem aus europäischen Böden. Und immer mehr Jüngere kokettieren fast oder ganz behaglich mit ihrem Spießertum, bekennen sich zum Schuhausziehzwang zu Hause, zur Freude am "normalen", geordneten, kleinkarierten Leben - und kommen nicht einmal auf die Idee, das Wort einmal ins Femininum zu setzen.

So liebevoll-ironisch wie in den sozialen Netzwerken wurde das Spießertum vielleicht seit dem Biedermeier-Maler Carl Spitzweg nicht mehr gesehen. Harmlos, mit Schirm und Bäuchlein, steht er bei ihm noch nach der 48er-Revolution da; als wüsste er nichts von der Unheimlichkeit, die der "gutmütige, schwammbäuchige Spießbürger" schon bei Heinrich Heine angenommen hat. Dieser beschrieb so das Auftreten des französischen Bürgerkönigs Louis-Philippe, dessen "lächelndes Fleischgesicht" als trügerische Maske. Verblüffend, wie hier im adeligen Louis-Philippe ein 100 Jahre später erfundener Kleinbürger vorweggenommen scheint: der brutale Fleischhauer Oskar in Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald".

Er weiß genau, was gut und böse ist

Vielleicht ist ihnen das Wort zu spitz, zu hart, vielleicht gefällt ihnen der Inhalt mehr - die Österreicher schimpfen jedenfalls lang nicht so gern über den Spießer wie die Deutschen; und das, obwohl die ausführlichste literarische Typologie des Spießers vom Österreicher Horváth kommt. "Was gut und was böse ist, weiß er, ohne nachzudenken", heißt es in dessen 1930 erschienenem Roman "Der ewige Spießer". Feige, angepasst, hypochondrisch und egoistisch sei dieser - und im Kleinbürgertum sesshaft. Ganz der künftige Mitläufer der Nazizeit, zumindest hat man es später so gedeutet. Die zunächst bei linken Kritikern in Mode gekommene Bezeichnung der deutschen AfD-Wähler als rechte oder rechtsextreme Spießer (die die NPD nun aufgegriffen hat), schlägt in diese Kerbe.

Der Spießer war von Beginn an ein politisches Schmähwort, eine aggressivere Variante des Spießbürgers. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts meinte es nur einen jungen Hirschen mit nicht ausgewachsenem Geweih; dann ersetzte es, zunächst in der Studentensprache, immer mehr den Spießbürger. Der wiederum meinte ursprünglich und gar nicht abwertend die mittelalterlichen Bürger, die mit Spießen die Städte verteidigten. Warum gerade sie zum Inbegriff von Engstirnigkeit geworden sind, wird spekuliert. Weil sie trotz aufkommender Feuerwaffen bei ihren Spießen blieben (Spießermerkmal eins: "Alles soll bleiben, wie es ist")? Oder weil sie auch als Ordnungshüter dienten (Spießermerkmal zwei: "So gehört es sich und nicht anders!")?

In der abwertenden Rede vom Spießbürger schwang außerdem soziale Arroganz mit (die mittelalterlichen Spießbürger gehörten zum ärmeren Teil ihrer Schicht) - selbst beim Großbürger Karl Marx, obwohl er damit für die "ganz unten" eintrat. Im kommunistischen Manifest ist das Spießbürgertum mit Kleinbürgertum synonym, später meinte Marx damit alle Bürger, die sich nicht mit dem Proletariat zur Revolution verbündeten. Diese politische Ausrichtung prägt den Spießer-Begriff bis heute. Es macht die Kritik an den linken Spießern so genüsslich (ausgerechnet sie stünden jetzt auf der Seite des biederen, veränderungsfeindlichen Mainstreams) - und auch das Etikett "Spießer-Partei", das die NPD der AfD verleiht, zum geschickten Schachzug: Die rechtsextreme NPD rückt sich damit an die Stelle des linken Proletariats, gibt sich als neue Revolutionspartei.

Es macht eben Spaß, den Spieß umzudrehen. Das geschieht auch im Moralischen. Der erhobene Zeigefinger, die moralische Selbstgerechtigkeit gehören seit jeher zum Spießer. Italienische Wörterbücher schlagen als Übersetzung für den deutschen Spießer nicht zufällig den benpensante vor, der sehr an den deutschen Gutmenschen erinnert. Und der wiederum wird gern in einem Atemzug mit dem linken Spießer genannt.

Auf den verachteten Kleinbürger kommt man auch, will man den Spießer übersetzen. Da landet man beim italienischen piccolo borghese oder beim englischen petty bourgeois, das vom französischen petit-bourgeois kommt. Das Englische kennt aber auch noch den aus der Literatur kommenden babbit, benannt nach einem Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Sinclair Lewis. In eben jenem Jahr, in dem Horváths "Ewiger Spießer" erschien, erhielt Lewis den Literatur-Nobelpreis, und zwar vor allem für "Babbit", eine Satire auf die amerikanische Business-versessene Mittelschicht der 1920er-Jahre, die nach großen Krisen wieder mehr Stabilität und wachsenden Wohlstand genoss. Lewis porträtierte sie als konformistisch und innerlich leer. Philister, hätten die deutschen Romantiker dazu wohl gesagt. Dieses Wort war weniger politisch konnotiert, meinte eher geist- und kunstferne Menschen. Kein Wunder, dass das immer revolutionärere 19. Jahrhundert dem Schimpfwort Spießbürger schließlich zum Sieg verholfen hat.

Damals glaubte man zu wissen, auf welcher Seite er politisch steht, heute ist das gar nicht mehr klar. Jede Seite sieht ihn auf der anderen. Dabei ist das Spießertum wohl am ehesten die parteiübergreifende Partei all derer, die nicht (mehr) wissen, wohin es gehen soll. Dann hält man ängstlich still - und lässt den Spieß so tun, als wisse er die Richtung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2016)

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